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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924

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Kállai, Ernő: Ludwig Tihanyi
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https://doi.org/10.11588/diglit.41564#0382

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Ludwig L i fl a n y i

Von ERNST KALL AI / Mit
acht Abbildungen auf vier Tafeln

Die Änfänge Cipanyis liegen ungefähr fünfzehn Jahre zurück. Sie fallen in die
3eit des erften gefammelten Durchbruchs nachimpreffloniftifcher Geftaltung in
Ungarn. Eine Gruppe von ad)t Malern und Bildhauern fcifloß fic±) damals zu-
fammen, um programmatifcß bewußt die Wendung zum Neuen darzutun. Das Neue
war ein gefteigertes, kraftvoll zugreifendes Lebensgefühl, das mit atmofphärifchen
Scheingebilden nichts mehr anzufangen wußte und pdt), feiner mehr körperlich trieb-
haften als geiftig bewußten Art gemäß, näher, handgreiflicher an die Natur heran-
arbeiten wollte. Nicht um fle einfach hinzunehmen, fondern um ihrem als beharrende
Stofflichkeit und dreidimenponale Plaftizität empfundenen Wefen eine menfchlid) aus-
drucksvolle Prägung zu geben. Dies konnte nur durch eine über darftellerifche Be-
ziehungen hinauswachfende Form gefchehen. Das Prinzip des Naturähnlichen wurde der
inneren Einheit und Gefdfloffenheit des Kunftwerkes untergeordnet.
Für die meiften ungarifchen Nachimpreffloniften war diefer Schritt gleichbedeutend
mit einer Anlehnung an Kompoptionsformen der Renaiffance. In ihren Werken kam
das bejahende Sicherheitsgefühl des Erdhaften, pathetifd) Selbftbewußten, fjerrifchen,
zur Geltung. Magyarifche Raffenzüge, die von einer felbft in der Fjauptftadt des Landes
fühlbaren bäuerlichen Ungebrochenheit und provinzialer Enge des Lebens zeugen,
üihanyi ift nicht fo unproblematifd). Selbft die von 1913 flammende Abendland-
fcflaft trägt unverkennbare Spuren einer fpaltenden und Achfen verfcfliebenden In-
tellektualität. 3Wflr hat die Natur ihre Bedeutung als ftofflich gegenftändliche Plaftizität
und gefdfloffener Bau beibehalten, doch ihr gelockertes Gefüge muß fleh den Spannungen
eigenwilliger pfychifcher Bewegungstendenzen unterwerfen. Dazu kommen allerdings
noch ganz vorfidflig taftende Verfuche, die 3weiheit von Naturkörper und Naturraum
auf dem gemeinfamen Boden einer tiefer gelegenen Struktur aufzuheben. Dreidimen-
fionale Naturgegenftändlichkeit, eine intellektuell zerfefete deformierende Ausdrucksweife
und eine Neigung zur abftrakten Baugefetflichkeit des Raumes find die Komponenten,
die in Cihanyis Kunft bis auf heute beftimmend wirken.
Auf der Landfchaft 1921, in der Brücke 1922 ift der Ausdruck durchgreifender
und der trennende Abftand zwifdjen Körper und Raum geringer geworden. Doch die
Natur als unzerftörbarer ausfdflaggebender Grundftock des Bildes bleibt auch weiter-
hin beftehen. — „Ein Menfch und die zu ihm gehörenden Beziehungen
des Gegenftändlichen find zufammen ein Stück Realität — jenfeits vom
Realismus.“ Diefe Äußerung des Künftlers kennzeichnet den Kampf, den er ftändig
um die Selbfterhaltung feiner Raum- und Formgefühle gegenüber der Wirklichkeit und
um die Durchdringung diefer Wirklichkeit mit feinem Stil- und Menfcßenwillen führen
muß. Der Kampf ift tragifd), weil das Gegenftändliche in ihm nicht einfach als Er-
reger des pfychifchen Gefchehens betrachtet wird, der, einmal „erlebt“, zu den übrigen
Seelenabfällen des Unterbewußtfeins wandert wie eine ausgepreßte 3itrone. Cißanyi
will den Gegenftand in feiner beharrenden gerüftbeftimmten Cotalität befißen, ihn von
allen Seiten her in die harte Umklammerung des Bildes hmeinbeziehen. Er will feine
Realität durch die reftlofe Gegenüberftellung mit dem Lebensgefühl des Malers und
Menfdjen zur unverrückbaren Gegenwärtigkeit erhärten. Und da diefes Lebensgefühl
von der fozialen und geiftigen Lage unferer 3eit her beftimmt: widerfprud)svoll und
kompliziert ift, kann ein gerades harmonifches Verhältnis zum Gegenftand, ein friedliches
gegenfeitiges 3ugeordnetfein von Bild und Natur nicht erreicht werden. Es ift ein un-
aufhörliches hartnäckiges Ringen, die Qual fortgefefet pd) erneuernder Spannungen,
Überwindungen und Niederlagen.
Cihanyi ift kein Exprefflonift. Er hat die Leidenfdßaft und Ausdauer, den Scharffinn
und die Difziplin des Forfcflers, der jede Naturform rückflcßtslos ‘zertrennt und analypert.

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