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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 16.1924

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Roh, Franz: Ein neuer Henri Rousseau: zur kunstgeschichtlichen Stellung des Meisters
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https://doi.org/10.11588/diglit.41564#0744

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halb die reinen Expreffioniften Rouffeaus Gefüge, wenn es als abftrakteres Gerüft fühlbar
wurde, zwar bewundern, fo peinigten bei aller Anerkennung doch gewiffe Eigenfd}aften
Rouffeaus, die inzwifdjen gerade zur Fjauptfreude der Jüngften werden konnten. 3u-
näd)ft jenes vollkommen undynamifche, alfo ins Definitive Verfteinerte des Bild-
fyftems überhaupt. Klobei nun deutlich wird, daß Rouffeau in geheimem gefd)id)t-
licßem gufammenßange mit der Linie David, Ingres, Puvis de Cßavannes fteßt, welche
heute aufs Neue mit der dynamifcßen Linie Gericault, Delacroix, Manet, Cezanne,
Futurismus in Kampf getreten ift.
Klährend ferner die weit getriebene Gegenftandsfcßärfe reifer Rouffeaubilder im
Expreffionismus zwar tßeoretifcl) beftaunt wurde, aber praktifd) ohne geringfte Nach-
wirkung bleiben mußte, ändert fiel) jefet auch dies Verhältnis. Gauguin muß feinen
Rußm an Rouffeau abtreten, weil Gauguin einfeitig breites ausdrucksfcßweres Naß-
bild ßinftellte, alfo eigentlich nur mit der Kategorie des Monumentalen, manchmal
fogar der monumentalen Dekoration arbeitete, während ein Mann wie Rouffeau un-
merklich die gleiche Feftigkeit des Äufbauens verfcßränkte mit minutiöfer, faft mikrofko-
pifcßer Kleinarbeit. Eine geiftesgefchicßtliche Kiendung von nicht geringer Bedeutung
war auch hiermit angebahnt. Denn erft fo hatte rnan die Möglichkeit, einen ganz ele-
mentaren Kleltbezug, der fd)on feit dem Impreffionismus übergangen worden war,
wieder auszudrücken: das im räumlich und bedeutungsmäßig Großen winzig
verlorene Kleine.
Damit brachte man auch eine andere Verbindung wieder zuftande, die im Im- und
Expreffionismus auseinandergefallen war, in vielen Phafen früherer Kunft aber gerade
unerhörtere Doppelwirkung gefiebert hatte: Klie vor einer Ältarmalerei etwa des
15. Jahrhunderts konnte man wieder fchon von ferne das Gefamtgefüge eines Bildes
fpüren, danach aber in eine gänzlich andere Sphäre übergehen, nämlich nahe heran-
treten und in unendlicher Sorgfalt auch die Kleinform abgrafen. Alles im Sinne einer
unheimlichen Durchdringung von Großmalerei und Miniatur, wie fie ein 3iel der riad)-
expreffioniftifchen Kunft wieder zu werden feßeint.
Damit konnte man eine weitere Kleltbeziehung feit langem zum erftenmal wieder
auskoften: Entfcßloffene Konftruktion als Grundlage alles menfehlichen Geftaltens
überhaupt, dabei aber — in hingegebener Liebe — fronende Pflege auch des ün-
fcheinbarften.
Oder von weiterem Gefichtspunkt her gefel)en: die Kielt zwar als Dämonie geahnt,
zugleich aber auch als Köftlid)keit genoffen. Nicht zu verwechfeln mit der vorherigen,
expreffioniftifchen „Köftlichkeit der Dämonie“.
Und ein Lefetes ift Rouffeaus Bildern eigen und fcheint Nachfolge zu finden. Rouffeau
fagt: Vielleicht ift alles, auch das ünheimlichfte, ein Idyll, aber auch dem Idyll fi&t
das große Schweigen, das Nichts und der Eod im Nacken. Vor allem in diefem
Sinne mag die wunderfame Verfeinerung zu nehmen fein, die in feinen reifen Kom-
pofitionen, Handlungen und Farben lauert.

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