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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 1 - Nr. 8 (4. Januar - 28. Januar)
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Nr. I.

Mittwoch, den 4. Januar 1871.

4. Jahrg.

Erſcheint Mittw och und Samſcag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schiffgaſſe 4

und bei den Trägern Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Der Adoptivvater.
Novelle von Emerentius Seävola.

(Fortſetzung.)

Das war zu viel für den alten Kopf und für das
alte Herz. „Mein Kind, meinliebes Kind! ſtammelte
der ſchwindelnde Greis, ließ die Pfeife aus dem Munde
fallen und ſtreckte ſeine Arme nach dem lieblichen Töch-
terchen aus. Gottholde lehnte ſich kindliſch an ſeine
Bruſt und ſeine zitternde Hand glitt ſtreichelnd auf und
ab an ihrem weißen, vollen Nacken. Einen Kuß! dachte
er, ach, einen Kuß nur. — Ob ich's wage? — Da,
indem er bereits den Kopf neigte, um ſeine Lippen in
den Bereich der ihrigen zu bringen, richtete ſie ſich auf,
ſah ihn bittend an und ſagte: „Väterchen, unſer Anton
friert draußen; er hat noch nicht gefrühſtückt, darf er
kommen und frühſtücken mit uns?“
Der geſpitzte Mund des alten Mannes zog ſich ſehr
breit und ſeine Stirne ſehr kraus. Alſo an ihn denkt
ſie, wenn ich ſie im Arm halte, ſeufzte er innerlich
und ſetzle, einigemal ſchwer Athem ſchöpfend, laut hinzu:
„Liebes Holdchen, das Brod des Landmanns iſt ein ſau-
res; es will erarbeitet ſein; ſieh' mein Lämmchen,
wenn Niemand Acht hat in der Scheune, ſo tragen die
Dreſcher uns den Segen fort; darum muß Einer von
uns Beiden Schildwache ſtehen und den Leuten auf die
Finger ſchauen. Willſt Du es aber, ſo will ich wieder
Oueaeben, und er mag kommen und frühſtücken mit
ir.“
Bei den letzten Worten hatte ſich ſeiner Stimme
eine gewiſſe Verbiſſenheit beigeſellt, die zuverläſſig in
unverholenen Groll hervorgetreten ſein würde, wenn
Gottholde Miene gemacht hätte, ſeinen Vorſchlag anzu-
nehmen; doch eh' er ihn völlig ausgeſprochen hatte, fiel
ſie ihm in die Rede: „Nein, Väterchen, um Alles in
der Welt nicht! Sie ſollen keinen ſauern Schritt mehr
gehen; all' Ihre Mühen und Sorgen ſollen unſer ſein;
das haben wir uns geſtern feierlich einander gelobt, An-
ton und ich, und Gott haben wir zu unſerm Beiſtande
angerufen, und gewiß wird Gott uns helfen, Ihnen
Ihre Liebe, Ihre Wohlthaten durch die kindlichſte ih
und Dankbarkeit zu vergelten. — Sie bleiben hier Ri
mir und ich ſchicke Anton ſein Frühſtück hinaus.“
Der Alte ſtand heftig bewegt auf; es war ihm,

Auge voll zärtlicher Beſorgniß an.

als hab' er die ergreifendſte Predigt mitangehörr; er

wollte reden, wollte Gottholden ſagen: geh, rufe Dei-
nen Anton, aber er war keines Wortes mächtig. Er
gieng in das andere Zimmer; beſorgt eilte ſié ihm nach,

aber da wandt' er das feuchtgewordene Auge ihr zu,

winkte ihr, zurückzubleiben, und zog hinter ſich die

Thür in's Schloß. „Ein Teufel müßt' ich ſein, wollt'
ich das Glück dieſer Menſchen ſtören!“ rief er. „Aber
will ich denn das? — bin ich denn Herr meiner ſelbſt?
— O Gott, es wäre wohl beſſer, wenn ich Rußland
nie verlaſſen hätte! — Aber ich mußte ja kommen, um
dieſe beiden Menſchen glücklich zu machen. — Doch nun
hab' ich meine Beſtimmung erfüllt; nun kann ich ja
wieder gehen. — Nein, das kann ich nicht; ich trenne
die Beiden ja, wenn ich von ihnen gehe; nur weil ſie
mein iſt, iſt ſie ſein. — Aber doch muß ich von hinnen,
oder ich gehe unter in Thorheit und Sünde. — Ich will
— ja nach Breslau will ich, auf ein paar Wochen, bis
ich ruhiger, bis ich vernünftiger geworden bin.“
Länger ertrug Gottholde die Bangigkeit nicht, in
welche des Vaters plötzliche Verſtimmung. ſie verſetzt
hatte; ſie lüftete die Thür und blickte ihn mit einem
„Mein Väterchen,
Ihr Auge iſt ſo trübe, fehlt Ihnen etwas?“ forſchte ſie.
„Nein, mein Liebchen,“ entgegnete er; „mir fehlt ei-
gentlich nichts, aber der Zugwind heute früh an der
Scheune, glaub' ich, iſt mir ein wenig an den Nacken
gefahren; das Genick dreht ſich mir ſo ſchwer.“ —
Gottholde erblaßte. „Um's Himmels willen, Väterchen,
ſo kommen Sie doch aus dem kühleren Zimmer heraus
in Ihr warmes Cabinetchen. Ich will Sie Upflegen,
denn krank dürfen Sie nicht werden.“ — Und ſo re-
dend zog ſie mit ſanfter Gewalt ihn zurück in ſein Stüb-
chen, drückte ihn nieder auf das Sopha, neſtelte ſich ein
kleines ſeidenes Tuch vom Halſe ab, und band es ihm
um den Nacken; und plötzlich, als falle noch etwas An-—
deres ihr ein, flog ſie in ihr Zimmer, kam zurück, ein
ſeidenes Bändchen in der Hand, ſchlang es ihm um den
Kopf, nahm es wieder ab und hüpfte wie ein Kind mit
einem Funde von dannen. ö
Wie ein Lamm auf der Schlachtbank, haite der Papa
mit geſchloſſenen Augen gezittert und gebebt unter den
Händen dieſer Zauberin, und der Athem war ihm ver-
gangen unter dem Druck ihres elaſtiſchen Buſen, der,
wenn gleich züchtig bedeckt und gefeſſelt, dennoch unaus-
ſprechlich zaubermächtig anf ſeinem Munde geruht hatte.

— „Das iſt zuviel für Menſchenkraft!“ ſtöhnte er, „das

kann kein Menſchenherz lragen!“ — Ich muß fort;
 
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