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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 70 - Nr. 78 (2. September - 30. September)
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V eiclelberger Vollksblatt.

Nr. 76.

Samſtag, den 23. September 1871.

ö 4. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckeret, Schiffgaſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Die Wiedervereinigung.
(Fortſetzung.)

Mitten unter dieſen gewaltſam ſich drängenden
ſchrecklichen- Bildern, die mein Herz beſtürmten, riefen
dieſe Wälle Rir unwillkührlich eine Begebenheit freund-
licherer Art, deren Zeugen ſie zum Theile vor ſechzehn
Jahren geweſen waren, in das Gedächtniß zurück.
Ein junger Fremder kam mit ſeiner Gattin hier
an, um eine gute Schiffsgelegenheit zur Ueberfahrt nach
Rußlands Küſten abzuwarten. Die Jahreszeit war
ſchon ziemlich weit vorgerückt, und die beiden Reiſen⸗—
den beſchloſſen, bis zur Wiedereröffnung der Schiff-
fahrt in Lübeck zu verweilen. Sie bezogen eine mit
Geräth verſehene Wohnung in einem Bürgerhauſe und
lebten in dem kleinen Kreiſe der Bekannten, welche der
Zufall ihnen zuführte, doch mehr noch mit ſich ſelbſt
in der ſtrengſten Eingezogenheit.
Lübecks Umgebungen und die Jahreszeit reizten
eben nicht zu weiten Ausflügen; allein auf den Wällen
ließ ſich wenigſtens friſche Luft einathmen und die Aus-
ſicht auf die mit Flecken und Dörfern überſäeten ge-
ſegneten Gefilde beſchäftigten angenehm das Auge; ſie
fanden ſich faſt täglich zu einer beſtimmten Stunde hier
ein, und wandelten traulich mit einander, gemeiniglich
ohne alle Begleitung. Da fie faſt Niemand kannten,
ſo fiel es ihnen auch nicht ein, beſondere Aufmerkſam-
keit auf die Luſtwandelnden zu wenden, welche ſie hier
zuweilen antrafen; nur unterſchieden ſie einen Greis
von edler, hoher Geſtalt, der durch jugendliche Mun-

terkeit nnd Schlankheit täuſchte, wenn man ihm nicht

in das Antlitz blickte, in welches die Erfahrungen eines
thatenreichen Lebens tief eingeprägt waren. Seine Züge
hatten viel Ernſt; mit kalter Ruhe berührte ſein Blick
die Gegenſtände, die ſich ihm darboten. —
Unſer Pärchen fandeähſzſte Greis faſt beſtändig zu
eben der Zeit, die ihrem ergange gewidmet war,
rs konnte die Frau ei-

hier herumwandern und be
ner unwillkührlichen Bewegung bei ſeinem Anblicke ſich
nicht erwehren. Beide forſchten nach ihm, ſo bald ſie
den Wall betraten, und wenn ſie ihn vermißten, war
es ihnen nicht gemüthlich. Oft ſcherzten ſie über dieſe
Theilnahme an einem Fremden, von dem ſie nichts
weiter kannten, als ſein Aeußeres, nicht einmal ſeinen
Namen oder ſeinen Stand, und den ſie nur in flüchti-

gen Augenblicken vorübergehen ſahen, ohne daß die ge-
ringſte gegenſeitige Annäherung, ja ſelbſt nicht die ge-
wöhnlichen Zeichen der Bekanntſchaft unter ihnen ſtatt-
gefunden hätten; der Greis ſchien ſie kaum zu be-
merken. ö
Es verfloſſen einige Monate, als der junge Mann
eines Abends in ein Kaffeehaus trat. Er fand das
Billard beſetzt. Nach einigem Verweilen bemerkte er
mehrere Gäſte ab⸗ und zu in ein Zimmer gehen, wo-
rin viele Menſchen verſammelt zu ſein ſchienen, deſſen
Thüre aber ſtets ſorgfältig zugemacht wurde. Die Neu-
gierde trieb ihn an, dies Zimmer zu öffnen, und er
ſand hier eine ziemlich zahlreiche Geſellſchaft um einen
Pharaotiſch, auf welchem nicht unbedeutende Haufen
Silber und Gold ihm entgegenblitzten.
Ohne beſonderen Hang zum Spiele wollte er doch
ſein Glück verſuchen. Er zog einige Karten und be-
ſetzte ſie mäßig — ſie gewannen; er pouſſirte ſie —
ſie gewannen. Jetzt wählte er eine andere und noch
eine dritte Karte — alle drei wurden abgeſchlagen.
Er verſuchte ſein Glück auf's Neue — es wankte —
das machte ihn hitzig, er verdoppelte den Einſatz, im-
mer erſchienen mehrere Karten auf dem Tiſche. — Das
Glück erklärte ſich beſtimmt gegen ihn. Er fing an, zu
zittern; höher färbte ſich die Wange, trübe Wolken um-
florten ſeinen Blick; je eigenſinniger das Glück war,
deſto eigenſinniger wurde auch er; die Karten, welche
am öfteſten abgeſchlagen wurden, gerade dieſe wollte
er forciren. Er hielt die Börſe in der Hand; vom
Silbergelde ging er zum Golde über, er mußte immer
tiefer greifen, und ſchon konnte er den Boden fühlen,
als eine Stimme hinter ihm flüſterte: Nehmen Sie
das Aß. — Er wandte ſich um und erblickte eben den
Greis hinter ſich ſtehen, den er vom Walle her ſo gut
kannte. Ihm dünkte er in dieſem Augenblicke ein ret-
tender Engel. Ohne Bedenken wählte er die ihm an-
gezeigte Karte, trug ſie auf alles Uebrige über, die
Entſcheidung erfolgte und — ſie gewann.
Mit welchem Gefühle er die Summe einſtrich, die
ſeinen Verluſt reichlich erſetzte, läßt ſich leicht denken.
Der Schlag erregte allgemeine Aufmerkſamkeit, der
Bankier blickte über den jungen Mann hinweg auf den
Greis, und ſobald die Taille geendiget war, kündigte
er die letzte an.
Robert, ſo will ich den jungen Fremden nennen,
wandte ſich um, ſeinem Schutzengel zu danken.
„Sie müſſen nicht mehr ſpielen, junger Mann,“
ſagte der Greis trocken, ohne weiter auf die feurigen
 
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