Nr. 108.
Mittwoch, den 27. Dezember 1871.
4. Jahrg
Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schiffgaſſe!
und bei den Trägern.
Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.
Leid und Löſung.
Eine Weihnachtsgeſchichte von Hermann Klerke.
(Schluß.)
Eine langwierige Krankheit, deren Folgen ich noch
nicht überwunden habe, that das ihrige, mich ganz hi-
nunterzubringen. Im Anfang wird das Borgen leicht;
ſolche Hülfsquellen ſind aber bald erſchöpft, wenn man
nicht pünktlich zurückzahlt. Da wird verſetzt, was ſich
verſetzen läßt, in der Hoffnung auf außerordentliche
Glücksfälle, die aber niemals eintreffen. So verkommt
und berlumpt man. Das iſt dann ein Zuſtand, wo
das Gewiſſen ſchlafen geht und man nichts denkt, als
wie man morgen den Hunger beſchwichtigen kann.
Hungern! Man muß nur einmal wirklich gehungert
haben, ohne Ausſicht auf Eſſen, um zu wiſſen, was das
heißt; zumal, wenn man noch ſo viel Schamgefühl be-
ſitzt, nicht an den Thüren betteln zu wollen. In ſol-
cher Lage, mit einer Familie von vier Kindern, war
ich in die Hände eines harten Gläubigers gefallen. Er
ſtieß mich von Stufe zu Stufe noch tiefer, indem er
den Unglücklichen, der ihm auf Gnade überliefert war,
zum Verbrecher machte. Er wußte, daß ich die Fertig-
keit beſaß, Schriftzüge täuſchend nachzuahmen. Unter
dem Vorgeben, daß er ein Liebhaber und Sammler ſel-
tener Handſchriften ſei, mußte ich ihm als Probe eine
Menge Copieen liefern. Dann ging es weiter. Ich
wurde Schritt für Schritt in die Verſuchung hineinge-
führt. Auch wußte er den Dingen immer ein Mäntel-
chen umzuhängen, ſo daß ich meiſt die ſchlimme Abſicht
nur ahnen konnte. Zum Lohn erhielt er mich und
die Meinigen gerade nur ſo, daß wir nicht ganz
am Hungertode ſtarben; zu leben aber hatten wir nicht.
Die günſtige Gelegenheit, die ſich mir einmal darbot,
in, ein Geſchäft einzutreten, wurde heimlich durch
ihn vereitelt, ſowie er überhaupt Alles that, mich in
ſchlechtem Ruf und damit in ſeiner Abhängigkeit zu
erhalten. So verarmt und verrufen mit einer hun-
gernden Familie blieb ich ſein Eigenthum.
Und dieſer Teufel, Herr Frank, dem ich die Seele
um ein elendes Stück Brod verkaufen mußte, dieſer
Teufel iſt der — Kommiſſionsrath Bergemann.“
In großer Erregtheit ſtand Kuno auf und nahm
aus ſeiner Brieftaſche einen Fetzen Papier, den er mit
nur in dem Vorſatz, es ihm nicht auszuliefern.
ferkuchen.
zitternder Hand Frank überreichte. Es war die Hälfte
des zerriſſenen Schuldſcheins. „Es iſt Ihr Eigenthum,“
fuhr Kuno fort, „und wenn ſich Bergemann, wie ich
fürchten muß, mit der von mir gelieferten Copie eine
Nichtswürdigkeit erlaubt hat, ſo werden Sie im Stande
ſein, ihn damit zu überführen. Mit großer Schlauheit
hat er mir immer die Beweisſtücke ſeines Treibens aus
den Händen gebracht; dies aber hielt ich zurück, wa-
rum, ich weiß es ſelbſt nicht, — und behauptete, es
verloren zu haben. Seine Drohungen beſtärkten mich
Erſt
geſtern erklärte mir Bergemann mit aller Beſtimmt-
heit, mich und die Meinigen verhungern zu laſſen, wenn
ich ihm dies Papier nicht wieder ſchaffe. Das Verlan⸗—
gen, mich der Hand dieſes Mannes zu entreißen, und
anderſeits die Nothwendigkeit, doch wieder meine Zu-
flucht zu ihm zu nehmen, verſetzten mich in eine Auf-
regung, deren Wirkung Sie ſelbſt geſehen haben.“
„Wie aber, fragte Frank, „wenn Bergemann trotz-
dem die Echtheit jenes Schuldſcheins behauptet? Denn
in der That, die Schriftzüge ſind ſo täuſchend, daß
ich ſelber Copie und Orginal nicht unterſcheiden könnte.“
„Dann werde ich,“ entgegnete Kuno feſt, „als Zeuge
gegen ihn auftreten, ohne Rückſicht auf jede Folge. Al-
lein er wird es nicht wagen.“ ö
„Ich danke Ihnen,“ verſetzte Frank, „Sie haben
mir einen Dienſt erwieſen, der Vieles gut macht. Sie
haben mich einen Boten Gottes genannt. Ich will ver-
ſuchen, dies Wort auch zu verdienen, und Ihnen Ihr
Leben neugeſtalten zu helfen.“ — —
Da war nun der ſchöne feſtliche Abend wirklich ge-
kommen! Die Stube funkelte vom Lichterſchein, am
Weihnachtsbaum hingen goldene Aepfel und Nüſſe und
der Tiſch peäſentirte ſich als eine wahre Schatzkam-—
mer von Kinderherrlichkeiten. Da fehlte der Storch
nicht für Gertrud und das Lamm für Suschen. Wer
aber glücklicher war an dieſem Abend, die Kinder oder
die Eltern, das wäre ſchwer zu entſcheiden geweſen.
Die kleinen Mädchen trippelten hin und her, nahmen
das Eine und das Andere und legten es wieder hin,
um nach Neuem zu greifen. Ja, wenn ſich Alles nur
mit einem Mal hätte ſehen und in der Hand behalten
laſſen! Das Lamm, der Elephant, Trompete und Pfef-
Auch Anna war mit ihrem Manne wohl
zufrieden, denn er hatte ihr alle Gerechtigkeit wider-
fahren laſſen. ö
„Um's Himmelswillen, was iſt denn los?“ rief
Anna ganz erſchrocken, als auf der Treppe plötzlich ein
Mittwoch, den 27. Dezember 1871.
4. Jahrg
Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schiffgaſſe!
und bei den Trägern.
Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.
Leid und Löſung.
Eine Weihnachtsgeſchichte von Hermann Klerke.
(Schluß.)
Eine langwierige Krankheit, deren Folgen ich noch
nicht überwunden habe, that das ihrige, mich ganz hi-
nunterzubringen. Im Anfang wird das Borgen leicht;
ſolche Hülfsquellen ſind aber bald erſchöpft, wenn man
nicht pünktlich zurückzahlt. Da wird verſetzt, was ſich
verſetzen läßt, in der Hoffnung auf außerordentliche
Glücksfälle, die aber niemals eintreffen. So verkommt
und berlumpt man. Das iſt dann ein Zuſtand, wo
das Gewiſſen ſchlafen geht und man nichts denkt, als
wie man morgen den Hunger beſchwichtigen kann.
Hungern! Man muß nur einmal wirklich gehungert
haben, ohne Ausſicht auf Eſſen, um zu wiſſen, was das
heißt; zumal, wenn man noch ſo viel Schamgefühl be-
ſitzt, nicht an den Thüren betteln zu wollen. In ſol-
cher Lage, mit einer Familie von vier Kindern, war
ich in die Hände eines harten Gläubigers gefallen. Er
ſtieß mich von Stufe zu Stufe noch tiefer, indem er
den Unglücklichen, der ihm auf Gnade überliefert war,
zum Verbrecher machte. Er wußte, daß ich die Fertig-
keit beſaß, Schriftzüge täuſchend nachzuahmen. Unter
dem Vorgeben, daß er ein Liebhaber und Sammler ſel-
tener Handſchriften ſei, mußte ich ihm als Probe eine
Menge Copieen liefern. Dann ging es weiter. Ich
wurde Schritt für Schritt in die Verſuchung hineinge-
führt. Auch wußte er den Dingen immer ein Mäntel-
chen umzuhängen, ſo daß ich meiſt die ſchlimme Abſicht
nur ahnen konnte. Zum Lohn erhielt er mich und
die Meinigen gerade nur ſo, daß wir nicht ganz
am Hungertode ſtarben; zu leben aber hatten wir nicht.
Die günſtige Gelegenheit, die ſich mir einmal darbot,
in, ein Geſchäft einzutreten, wurde heimlich durch
ihn vereitelt, ſowie er überhaupt Alles that, mich in
ſchlechtem Ruf und damit in ſeiner Abhängigkeit zu
erhalten. So verarmt und verrufen mit einer hun-
gernden Familie blieb ich ſein Eigenthum.
Und dieſer Teufel, Herr Frank, dem ich die Seele
um ein elendes Stück Brod verkaufen mußte, dieſer
Teufel iſt der — Kommiſſionsrath Bergemann.“
In großer Erregtheit ſtand Kuno auf und nahm
aus ſeiner Brieftaſche einen Fetzen Papier, den er mit
nur in dem Vorſatz, es ihm nicht auszuliefern.
ferkuchen.
zitternder Hand Frank überreichte. Es war die Hälfte
des zerriſſenen Schuldſcheins. „Es iſt Ihr Eigenthum,“
fuhr Kuno fort, „und wenn ſich Bergemann, wie ich
fürchten muß, mit der von mir gelieferten Copie eine
Nichtswürdigkeit erlaubt hat, ſo werden Sie im Stande
ſein, ihn damit zu überführen. Mit großer Schlauheit
hat er mir immer die Beweisſtücke ſeines Treibens aus
den Händen gebracht; dies aber hielt ich zurück, wa-
rum, ich weiß es ſelbſt nicht, — und behauptete, es
verloren zu haben. Seine Drohungen beſtärkten mich
Erſt
geſtern erklärte mir Bergemann mit aller Beſtimmt-
heit, mich und die Meinigen verhungern zu laſſen, wenn
ich ihm dies Papier nicht wieder ſchaffe. Das Verlan⸗—
gen, mich der Hand dieſes Mannes zu entreißen, und
anderſeits die Nothwendigkeit, doch wieder meine Zu-
flucht zu ihm zu nehmen, verſetzten mich in eine Auf-
regung, deren Wirkung Sie ſelbſt geſehen haben.“
„Wie aber, fragte Frank, „wenn Bergemann trotz-
dem die Echtheit jenes Schuldſcheins behauptet? Denn
in der That, die Schriftzüge ſind ſo täuſchend, daß
ich ſelber Copie und Orginal nicht unterſcheiden könnte.“
„Dann werde ich,“ entgegnete Kuno feſt, „als Zeuge
gegen ihn auftreten, ohne Rückſicht auf jede Folge. Al-
lein er wird es nicht wagen.“ ö
„Ich danke Ihnen,“ verſetzte Frank, „Sie haben
mir einen Dienſt erwieſen, der Vieles gut macht. Sie
haben mich einen Boten Gottes genannt. Ich will ver-
ſuchen, dies Wort auch zu verdienen, und Ihnen Ihr
Leben neugeſtalten zu helfen.“ — —
Da war nun der ſchöne feſtliche Abend wirklich ge-
kommen! Die Stube funkelte vom Lichterſchein, am
Weihnachtsbaum hingen goldene Aepfel und Nüſſe und
der Tiſch peäſentirte ſich als eine wahre Schatzkam-—
mer von Kinderherrlichkeiten. Da fehlte der Storch
nicht für Gertrud und das Lamm für Suschen. Wer
aber glücklicher war an dieſem Abend, die Kinder oder
die Eltern, das wäre ſchwer zu entſcheiden geweſen.
Die kleinen Mädchen trippelten hin und her, nahmen
das Eine und das Andere und legten es wieder hin,
um nach Neuem zu greifen. Ja, wenn ſich Alles nur
mit einem Mal hätte ſehen und in der Hand behalten
laſſen! Das Lamm, der Elephant, Trompete und Pfef-
Auch Anna war mit ihrem Manne wohl
zufrieden, denn er hatte ihr alle Gerechtigkeit wider-
fahren laſſen. ö
„Um's Himmelswillen, was iſt denn los?“ rief
Anna ganz erſchrocken, als auf der Treppe plötzlich ein