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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 70 - Nr. 78 (2. September - 30. September)
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Nr. 72.

Sanſtag, den 9. September 1871.

4. Johrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 19 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckere, Schiffgaſſe 4
—— uund bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten. ——

Der Sohn des Millionärs.
(Fortſetzung.)

Da er nicht tanzt, ſo tanze ich auch nicht gern mehr,
ſagte ſie im vollſten Ernſte bei ſich. Als aber der Tag des
Balles endlich gekommen war, da erwachte der Geiſt der
Jugend wieder ſtürmiſch in ihr, und ſie wendete alle
werblichen Kunſtgriffe an, um Madame Deschamps zu
deſtimmen, daß ſie ſie hinführen möchte; das war ein
ſchweres Unternehmen, aber es glückte Julietten. Hier-
auf machte ſie, nicht ohne einiges Zagen, einen andern
Verſuch: — Iſt das ein ſo feſter Entſchluß, daß Sie
nicht mehr tanzen? ſagte ſie zu Herrn Raymond, haben
Sie ein Gelübde gethan? -
Ein Gelübde? antwortete er, mein Gott, nein, es
iſt ein einfacher Vorſatz.

Ach! wenn es weiter nichts iſt, unterbrach ſie ihn,

ſo kommen Sie dieſen Abend auf den Ball, thun Sie
es aus Freundſchaft gegen mich.
Emil wäre es weit lieber geweſen, wenn ihr, von
der er ſchon mehr abhängig war, als er ſich ſelbſt ge-
ſtand, dieſer Gedanke nicht eingekomman wäre, denn
ein Tête-à-Téte mit ihr wäre ihm weit lieber geweſen.
Aber nach einer kurzen Unentſchleſſenheit willigte er ein
und verſprach, um acht Uhr bereit zu ſein.

Den ganzen Tag über war Fräulein Firmin aus-

gelaſſen vor Freude und beim Ankleiden hörte ſie nicht
auf zu lachen und zu ſingen. Nach einer großen Be-
rathſchlagung, die ſie bei ſich ſelbſt anſtellte, einer Be-
rathſchlagung, wobei, Dank der Abweſenheit ihrer Mut-
ter, ihr guter Geſchmack triumphirte, wählte ſie ein
ganz einſaches Kleid. Als ſie es ſich anlegte, da ſagte

ſie leiſe und lächelnd zu ſich: O, diesmal werde ich ihm

gewiß gefallen! Bei aller ihrer Unſchuld wendete Ju-

liette beim Ankleiden alle die feinen Kunſtgriffe einer

vollendeten Koketterie an; zehn Mal ordnete ſie ihr be-
munderungswürdiges Haar anders, zehn Mal legte ſie
die Falten ihres Muſſelinkleides anders um ihre wei-

ßen Schultern; als ihr endlich der letzte Blick in den
Spiegel geſagt hatte, ſie habe ihre perſönlichen Vorzüge

ſo gut als möglich geltend gemacht, ging ſie voller
Freude und. Ungeduld in den Salon der Madame Des-

chaups hinab, mum den zu erwarten, von dem ein ein-
ziger Blick ſie ſür ſo große Mühe bezahlen fallte.

Sie mochte ein Viertelſtündchen gewartet haben, da
öffnete ſich die Thür und Herr Raymond trat ein, aber
viel bläſſer als gewöhnlich und in ſeinem Morgenan-
zuge. — Mein Gott, ſchrie Juliette, was iſt mit Ih-
nen? kommen Sie nicht auf den Ball? ö *
Nein, ich muß darauf verzichten, antwortete Emil,
ſich niederſetzend, ich habe das heftigſte Kopfweh und
komme, mich bei Ihnen zu entſchuldigen. — Mit einer

Bewegung, deren ſie nicht Herr war, legte Juliette

ihre Hand an die Stirn des jungen Mannes und rief:

— Wie ihre Stirn brennt! ach, Sie leiden mehr, als

Sie es ſagen. ö *
Dieſe Handlung, begleitet von einem Blicke, worin
ſich das lebhafteſte Mitgefühl ausſprach, machte auf
den, dem es galt, einen plötzlichen und tiefen Eindruckz
das Herz ſchlug ihm gewaltig, als ſeine Augen auf
dieſem lieblichen Geſichte ruhten, das ſich mit dem Aus-
drucke des Vertrauens und der Ergebenheit ihm zu-
neigte. ö ö ö ö
4 Sie antworten nicht? ſagte Juliette wieder, iſt Ih-
nen unwohler? Und ſie drückte noch immer ihre Hand
auf Emil's Stirn, der vor innerer Aufregung zitterte.
Es hat gar nichts zu bedeuten, ſagte er mit einem
erzwungenen ruhigen Tone, während eine Menge tu-
multuariſch aufgeregter Gefühle ſeinen Geiſt beſtürm-
ten; — es hat nichts zu bedeuten, gehen Sie auf den
Ball und * * ö
Auf den Ball! unterbrach ihn Juliette und zog leb-
haft ihre Hand zurück, auf den Ball! glauben Sie, daß
mich der Gedanke an Ihre Leiden nicht dahin begleiten
würde, oder daß ich würde tanzen können, wenn ich bei
mir ſagen müßte: Er iſt krank? Nein, nein, Herr Ray-
mond, ich habe kein ſo ſchlechtes Herz, noch ſo wenig
Freundſchaft für Sie! ö
Sie lieben mich alſo? rief Emil in Entzücken.
Das junge Mädchen ſah ihn mit ihren großen Au-
gen, worin einige Thränen glänzten, verwundert an,
und antwortete in einem Tone des Vorwurfs: — Wie,
das wußten Sie nicht? ö
Dieſe Worte, der unwillkührliche Ausdruck einer
eben ſo reinen als zärtlichen Zuneigung erhielten bei
einem leidenſchaftlichen und durch die dieſes unerwar-
tete Téte-ä-Této begleitenden beſondern Umſtände au⸗⸗
geregten Manne einen ganz andern Sinn. In einer
Art Wonnerauſch, in dem er eine Erklärung beſchleu-

wate, die ſonſt noch kange hätte in ſeinem Herzen ſchla-

fen können, faßte er die Hände des jungen Mädchens

in ſeine Hände, drückte ſie inbrünſtig und rief, ihren
 
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