Nr. 101.
Mittwoch, den 20. Dezember 1871.
4. Jahrg.
int Mittwoch und Samſcag. reis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schiffgaſſe 4
erlcben ö und be vea Trägern. Auswärts bet den Landboten und Voſtanſtalten.
Leid und Löſung.
Eine Weihnachtsgeſchichte von Hermann Klerke.
(Fortſetzung).
Es iſt nicpt der erſte Anfall dieſer Art; wenn ihn
Gedanken peinigen und ihm das Blut zu Kopfe ſteigt,
dann geberdet er ſich wie ein Tobſüchtiger, dieſer ſchwäch-
liche, kranke Menſch, bis er zuſammeufällt. O mein
Gott, welch' ein Ende wird das nehmen! muß das
nehmen! Und meine vier Kinder! — Sie, mein Herr,
der Sie wohlhabend, reich ſind, ein geachtetes, glückli-
ches Leben führen, können das freilich nicht begreifen!“
In der Kammer nebenan waren die Kinder aufge-
wacht und ſchrieen nach der Mutter, die weinend ihr
Geſicht mit der Schürze verhüllte, während der Mann,
wie im Starrkrampf, ohne Bewegung ſaß. Ein Blick
in das Innere der Wohnſtube erinnerte hier und da
an beſſere Zeiten; es waren kleine, werthloſe Luxus⸗—
gegenſtände, die bei dem Mangel des Nothwendigen
die Verkommenheit im Ganzen nur um ſo greller her-
vorhoben. Was äußerlich den Wohnraum putzen ſollte,
war geblieben, nur weil der Käufer fehlte, während
die allgemeine Bedürftigkeit nackt und bloß hervortrat.
— Ja, über Nacht ſchleicht ſich die Armuth ein, und
birgt ſich ſtill in einem Winkel; bald aber finden am
Tage die Bewohner keinen Platz mehr vor ihr und wer-
den elend hinausgetrieben.
Frank fühlte gleichwohl, daß hier das Elend noch
tiefer wurzelte, noch einen andern Grund habe, als die
Noth um den täglichen Lebensbedarf. Hier laſtete ein
Druck noch anderer und vielleicht ſchlimmerer Art. Wie
leicht war dagegen die Bedrängniß, in melcher Frank
ſich ſelbſt befand. Er ſagte beſänftigend zu der Wei-
nenden: „Sie ſehen Ihre Lage vielleicht hoffnungsloſer
an, als ſie iſt. Ein feſter und redlicher Wille findet
auch wieder feſten Boden im Leben. Vor Allem ſor-
geu Sie jetzt für Ihren Mann. Das Weitere berathen
wir dann gemeinſchaftlich. Sie wiſſen meine Woh-
nung.“ — Er hatte unbemerkt das baare Geld, wel⸗—
ches er bei ſich hatte, herausgezogen, drückte es verſtoh.
ö len in die Haud der Frau und entfernte ſich raſch und
eiſe. —
„Aber Richard, wie lange ſchläfſt Du heute!“ rief
Anna faſt ein wenig ungeduldig, denn Sie empfand
lebyafte Sehnſucht, mit ihrem Manne vom Weihnachts⸗—
abend zu plaudern und ihm alle die kleinen Einkäufe
zu zeigen, die ſie geſtern für die Kinder gemacht hatte.
Frank rieb ſich die Augen; in der That, es war ſchon
ſpät; raſch ſprang er auf und zog ſich an. Allmählig
dämmerten die Ereigniſſe der letzten Nacht wieder in
ihm auf und gewannen die feſte Geſtalt. Sie traten
indeß, obſchon nur wenige Stunden Schlaf dazwiſchen
lagen, weit zurück, während die Erinnerung an ſeine
eigene bedrängte Lage und die Verlegenheiten, die ihm
der heutige Tag bereiten mußte, in aller Stärke leben-
dig wurde. Es war kein angenehmes Gefühl und er
bemühte ſich uur, es vor der frohen Weihnachtslaune
Anna's möglichſt verborgen zu halten. „Du haſt,“ fuhr
ſie mit zärtlich vorwurfsvollem Blicke fort, „gewiß bis
in die Nacht wieder gearbeitet? — Nun, ſo komm nur,
Du böſer Mann, und ſieh Dir jetzt die Herrlichkeiten
an, die ich für Deine Kinder geſtern eingekauft habe.
Am Ende weißt Du gar nicht, daß heute Weihnachten
iſt, Du Heide? Ich glaube faſt, denn in den letzten
Tagen warſt Du ja immer wie vergraben in Büchern
und Papieren. Wie wär' es, wenn Du zur Strafe
diesmal von mir nichts bekämſt? Ob ich das fertig
brächte? Nun, wer weiß! Aber rathen mußt Du,
mit welchem Buchſtaben mein Geſchenk anfängt. Sag'
einmal, was Du Dir wünſcheſt. Ich möcht' es gerne
wiſſen, und vielleicht, ich ſtehe mit dem Rupprecht auf
einem guten Fuße, da ließe ſich noch Manches nach-
holen.“ ö
Es gibt Augenblicke, in denen man leichter handelt
als ſpricht; darum küßte Frank die liebe Plauderin
recht herzlich und ſie mußte ſich ſchon mit dieſer Ant-
wort begnügen. Allein das Weihnachtskapitel war
gleichwohl nicht zu Ende, denn Frank ſollte jetzt ſeine
Freude und ſein Erſtaunen über alle die reizenden Häu-
ſer und Bäume, Menſchen und Thiere an den Tag le-
gen, die Anna für den Weihnachtstiſch beſtimmt hatte.
Beim Anſchauen dieſer Kinderſchätze, die Abends noch
durch eine wunderbare Beleuchtung den rechten Zauber
empfangen ſollten, erglänzte das Geſicht der jungen
Mutter in ſtiller Wonne. Sie war ſo glücklich und
mit den Kindern Mutter und Kind zugleich. Wäre
nur Richard ein wenig achtſamer heute geweſen; er
ſchien ihr diesmal ſo merkwürdig theilnahmlos, wenn
ſie ihn auf den intereſſanten Gorilla, den eleganten
Tiger, daͤs wohlhäbige Rhinozeros und andere Notabi-
Mittwoch, den 20. Dezember 1871.
4. Jahrg.
int Mittwoch und Samſcag. reis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schiffgaſſe 4
erlcben ö und be vea Trägern. Auswärts bet den Landboten und Voſtanſtalten.
Leid und Löſung.
Eine Weihnachtsgeſchichte von Hermann Klerke.
(Fortſetzung).
Es iſt nicpt der erſte Anfall dieſer Art; wenn ihn
Gedanken peinigen und ihm das Blut zu Kopfe ſteigt,
dann geberdet er ſich wie ein Tobſüchtiger, dieſer ſchwäch-
liche, kranke Menſch, bis er zuſammeufällt. O mein
Gott, welch' ein Ende wird das nehmen! muß das
nehmen! Und meine vier Kinder! — Sie, mein Herr,
der Sie wohlhabend, reich ſind, ein geachtetes, glückli-
ches Leben führen, können das freilich nicht begreifen!“
In der Kammer nebenan waren die Kinder aufge-
wacht und ſchrieen nach der Mutter, die weinend ihr
Geſicht mit der Schürze verhüllte, während der Mann,
wie im Starrkrampf, ohne Bewegung ſaß. Ein Blick
in das Innere der Wohnſtube erinnerte hier und da
an beſſere Zeiten; es waren kleine, werthloſe Luxus⸗—
gegenſtände, die bei dem Mangel des Nothwendigen
die Verkommenheit im Ganzen nur um ſo greller her-
vorhoben. Was äußerlich den Wohnraum putzen ſollte,
war geblieben, nur weil der Käufer fehlte, während
die allgemeine Bedürftigkeit nackt und bloß hervortrat.
— Ja, über Nacht ſchleicht ſich die Armuth ein, und
birgt ſich ſtill in einem Winkel; bald aber finden am
Tage die Bewohner keinen Platz mehr vor ihr und wer-
den elend hinausgetrieben.
Frank fühlte gleichwohl, daß hier das Elend noch
tiefer wurzelte, noch einen andern Grund habe, als die
Noth um den täglichen Lebensbedarf. Hier laſtete ein
Druck noch anderer und vielleicht ſchlimmerer Art. Wie
leicht war dagegen die Bedrängniß, in melcher Frank
ſich ſelbſt befand. Er ſagte beſänftigend zu der Wei-
nenden: „Sie ſehen Ihre Lage vielleicht hoffnungsloſer
an, als ſie iſt. Ein feſter und redlicher Wille findet
auch wieder feſten Boden im Leben. Vor Allem ſor-
geu Sie jetzt für Ihren Mann. Das Weitere berathen
wir dann gemeinſchaftlich. Sie wiſſen meine Woh-
nung.“ — Er hatte unbemerkt das baare Geld, wel⸗—
ches er bei ſich hatte, herausgezogen, drückte es verſtoh.
ö len in die Haud der Frau und entfernte ſich raſch und
eiſe. —
„Aber Richard, wie lange ſchläfſt Du heute!“ rief
Anna faſt ein wenig ungeduldig, denn Sie empfand
lebyafte Sehnſucht, mit ihrem Manne vom Weihnachts⸗—
abend zu plaudern und ihm alle die kleinen Einkäufe
zu zeigen, die ſie geſtern für die Kinder gemacht hatte.
Frank rieb ſich die Augen; in der That, es war ſchon
ſpät; raſch ſprang er auf und zog ſich an. Allmählig
dämmerten die Ereigniſſe der letzten Nacht wieder in
ihm auf und gewannen die feſte Geſtalt. Sie traten
indeß, obſchon nur wenige Stunden Schlaf dazwiſchen
lagen, weit zurück, während die Erinnerung an ſeine
eigene bedrängte Lage und die Verlegenheiten, die ihm
der heutige Tag bereiten mußte, in aller Stärke leben-
dig wurde. Es war kein angenehmes Gefühl und er
bemühte ſich uur, es vor der frohen Weihnachtslaune
Anna's möglichſt verborgen zu halten. „Du haſt,“ fuhr
ſie mit zärtlich vorwurfsvollem Blicke fort, „gewiß bis
in die Nacht wieder gearbeitet? — Nun, ſo komm nur,
Du böſer Mann, und ſieh Dir jetzt die Herrlichkeiten
an, die ich für Deine Kinder geſtern eingekauft habe.
Am Ende weißt Du gar nicht, daß heute Weihnachten
iſt, Du Heide? Ich glaube faſt, denn in den letzten
Tagen warſt Du ja immer wie vergraben in Büchern
und Papieren. Wie wär' es, wenn Du zur Strafe
diesmal von mir nichts bekämſt? Ob ich das fertig
brächte? Nun, wer weiß! Aber rathen mußt Du,
mit welchem Buchſtaben mein Geſchenk anfängt. Sag'
einmal, was Du Dir wünſcheſt. Ich möcht' es gerne
wiſſen, und vielleicht, ich ſtehe mit dem Rupprecht auf
einem guten Fuße, da ließe ſich noch Manches nach-
holen.“ ö
Es gibt Augenblicke, in denen man leichter handelt
als ſpricht; darum küßte Frank die liebe Plauderin
recht herzlich und ſie mußte ſich ſchon mit dieſer Ant-
wort begnügen. Allein das Weihnachtskapitel war
gleichwohl nicht zu Ende, denn Frank ſollte jetzt ſeine
Freude und ſein Erſtaunen über alle die reizenden Häu-
ſer und Bäume, Menſchen und Thiere an den Tag le-
gen, die Anna für den Weihnachtstiſch beſtimmt hatte.
Beim Anſchauen dieſer Kinderſchätze, die Abends noch
durch eine wunderbare Beleuchtung den rechten Zauber
empfangen ſollten, erglänzte das Geſicht der jungen
Mutter in ſtiller Wonne. Sie war ſo glücklich und
mit den Kindern Mutter und Kind zugleich. Wäre
nur Richard ein wenig achtſamer heute geweſen; er
ſchien ihr diesmal ſo merkwürdig theilnahmlos, wenn
ſie ihn auf den intereſſanten Gorilla, den eleganten
Tiger, daͤs wohlhäbige Rhinozeros und andere Notabi-