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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 96 - Nr. 104 (2. Dezember - 30. Dezember)
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eitlelberger

Holksblatt.

Nr. 104.

Samſtag, den 30. Dezember 1871.

4. Jahrg

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckeret, Schiffgaſſel
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Ein Billet auf den erſten Rang,

Es war vor einigen Jahren im Winter, als Fenella
(die Stumme von Portici) in St. Petersburg auf die
Bühne kam und den Enthuſiasmus der Hauptſtadt er-
regte. In allen „Geſellſchaften, großen und kleinen,

reichen und armen, glänzenden und beſcheidenen, ſprach

man nur von Fenella, hörte man nur Motive aus Fe-
nella. Es hielt ſchwer, ſehr ſchwer, ja es war faſt un-
möglich, Billets zur Fenella zu bekommen; man be-
trachtete ſie wie das koſtbarſte Kleinod, wie einen un-
ſchätzbaren Schatz; ſie waren der Gegenſtand alles Nei-
des, alles Verlangens. Die Glücklichen, welche dieſe
Oper geſehen hatten, erzählten mit Stolz und Begei-
ſterung den Profanen von ihren Wundern, und dieſe
waren ganz Ohr und wagten kaum zu athmen; dieſe
vom Schickſal begünſtigten Perſonen, welche von ihm
unter andern Gütern auch mit einem Theaterbillet aus
dem Füllhote ſeiner Güte überſchüttet wor den waren,
ſchilderten mit Entzücken Aubers reizende Muſik, das
begeiſterte Spiel der Madame Novitzky, den herrli-
chen Bolero des Fiſchers, die glänzenden Coſtüme, die

köſtlichen Dekorationen und den wunderbaren Ausbruch

des Veſuvs. Durch ſolche Erzählungen ward das Pub-⸗
likum immer mehr entflammt. Nie hatte eine Erſchei-
nung im Gebiete der Künſte ſeit Gründung von St.
Petersburg in ſo hohem Grade die allgemeine Neugierde
und Enthuſiasmus erregt.
Nur ein einziger Mann in ganz Petersburg hatte

inmitten dieſer allgemeinen Begeiſterung ſeine Kaltblü-
Ein anderer Gegenſtand beſchäftigte

tigkeit bewahrt.
ſeine Gedanken, ſeine Wünſche und ſeine Hoffnungen.
Es war ein junger Finanzbeamter, der mit einem ju-
gendlichen und reizenden Mädchen verlobt war und lie-
ber ſeinen Abend bei ſeiner Nadeje, als im Schau-
ſpiele zubrachte. Nadeje war zum Entzücken ſchön; ſie
weilte mit berauſchten Blicken auf ihrem Bräutigam,
wenn ſie zuſammen am Piano ſaßen, und ihre niedli-

chen weißen Hände in ihrer Zerſtreuung auf dem Cla-

vier herumirrten. Und dann war Nadeje auch reich;
ihr Vater, der einen Theehandel gehabt, hatte ihr
200,000 Rubel auf Capital und ein ſchönes Haus hin-
terlaſſen, was gewiß keine Kleinigkeit war. Vermögen
thut bekanntlich dem Glücke keinen Eintrag, das man
ſich in der Ehe verſpricht. Nadeje's Vormund und

Onkelt hatte gewollt, daß ſie eine Erziehung nach der
Mode erhalte und kein Geld geſpart. Nadeje war in
Penſion der Madame R .. . erzogen worden, ſie ſprach
franzöſiſch und ſpielte fertig Piano. Ihr Vormund
wünſchte für ſie einen Gatten von Adel. Endlich fand
man einen Bräutigam, ſo wie man ihn wünſchte. Die
Hochzeit ward auf künftige Oſtern angeſetzt. Nadeje's
Tante ſagte alle Abende zu ihrem Manne: „Wenn er
auch nicht reich iſt, ſo iſt er doch ein artiger junger
Mann, der ſchon einen hohen Poſten bekleidet; mit
ſeinem unternehmenden Geiſte kann er es noch weit
bringen. Und dann iſt er auch gar nicht ſtolz; ob-
gleich er ein Band im Knopfloch trägt, ſo küßt er mir
dennoch ſtets zuvorkommend die Hand. Wir hätten
gar keine beſſere Parthie für unſere Nadeje ſinden
können.“ ö
Fedor Petrowitſch hatte die löbliche Gewohnheit,
nie ſeiner Gattin zu widerſoprechen und war gleichfalls
ſehr froh. ö
Eines Donnerſtags ſchlos Nadejes Bräutigam um
drei Uhr ſein Bureau und begab ſich in ihre Wohnung,
da er bei Fedor Petrowitſch diniren ſollte. In dem
Maße, wie er dem Hauſe näher kam, heiterte ſich ſein
Geſicht auf, die Wolken der adminiſtrativen Geſchäfte
ſchwanden allmählig von ſeiner Stirn; er athmete freier
auf, und als er ſeine theuere Nadeje mit ihrem ge-
wöhnlichen Lächeln auf ſich zukommen ſah, war er be-
zaubert und vergaß ſchnell ſeine Sorgen.
„Hören Sie, Alexander,“ begann Nadeje, während
8 ihr zärtlich die Hand küßte, „ich habe eine Bitte an
ie.“
„Sagen Sie lieber einen Befehl, reizende Na deje.“
„Verſchaffen Sie mir eine Loge zur Fenella. Ich,
ſterbe vor Verlangen, dieſe Oper zu ſehen, von der
meine Couſine Wunder erzählt. Es muß ein reizendes
Stück ſein.“ ö ö
„Mit dem größten Vergnügen,“ antwortete Ale-
rander, Nadeje's Hand küſſend. „Ich werde Ihrem
Befehle nachkommen.“
„Aber es muß eine Loge im erſten Range ſein; ich
gehe nur auf den erſten Rang,“ fügte ſie mit einer be-
deutungvollen Bewegung des Kopfes hinzu.
Nadeje war ein wenig eitel. ö
„Alles ſoll nach Ihrem Wunſche geſchehen, meine
unvergleichliche Nadeje,“ verſetzte der über die Gele-
genheit, ſich ihr gefällig zu bezeigen, entzückte Bräu-
tigam. —
Kaum war der Morgen des folgenden Tages an-
 
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