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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 70 - Nr. 78 (2. September - 30. September)
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PHeillelberger Vollsblatt.

Nr. 75.

Mittwoch, den 20. September 1871.

4. Johrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schiffgaſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Die Wiedervereinigung.
(Von Georg Reinbeck.)

Es war kurz nach den für Lübeck ewig denkwürdi-
gen, ſchrecklichen Tagen am Ende des unter Blutſtrö-
men verfloſſenen Jahres 1806, als mich Geſchäfte in
dieſe beiſpiellos unglückliche Stadt führten. Vor ſech-
zehn Jahren war ich dort geweſen und ſeitdem nicht
wieder; ihr Bild hatte aber in der Erinnerung mein
Herz ſtets wohlthätig angeſprochen, wie denn wohl
keine der ehemaligen freien Reichsſtädte, wenigſtens
keine der blühenden, dieſe Wirkung auf ein menſchlich
fühlendes Herz verfehlen konnte.
Hier ſchien das Ideal eines glücklichen Menſchen-
vereines ſo weit verwirklichet, als ſich dies nur im-
mer auf dieſem Erdenrunde erwarten ließ. Fern von
den Tyrannen der Menſchheit, Herrſchſucht und
Ehrgeiz, lebte in dieſen beſchränkten Staaten ein
Völkchen unter ſeinen eigenen Geſetzen; ſeine Regen-
ten waren Kinder der gemeinſchaftlichen Familien, durch
die Bande des Blutes mit dieſen innigſt vereint; dieſe
Bande umſchlangen in tauſend Windungen alle Glie-
der und verknüpften ſie zu einem unzertrennten und
unzertrennlichen Ganzen; das Wohl des Einzelnen
hing mit dem Wohle aller auf das genaueſte zuſam-
men; eine gewiſſe Selbſtſtändigkeit, die Folge der Ver-
faſſung und des durch Thätigkeit erworbenen, allgemein
verbreiteten, hohen Wohlſtandes, war ein unverkenn-
barer Charakterzug dieſer Familien. Hier gab es keine
Müſſiggänger, keine blos Genießende, woraus in unſe-
ren Tagen faſt der größte Theil der oberen Stände
in großen Städten beſteht, oder es gab deren doch nur
in unbedeutend kleiner Zahl; hier hatte jeder einen
Zweck, ein wohl erkanntes Ziel ſeines Strebens, und
indem er es zu erreichen ſuchte, beförderte er die Zwecke
des Ganzen. War irgend wo Gemeingeiſt zu finden,
ſo war es hier und dieſer äußerte ſich oft ſo glänzend,
wenn es auf bedeutende Opfer für nützliche öffentliche
Anſtalten, oder für die Verſchönerung des gemeinſa-
men Wohnortes ankam; und wenn ſich dem erkannten
Guten auch zuweilen Widerſpruch entgegenſetzte, ſo
hatte dies doch keinen tiefern Grund, als allenfalls die
Ehrfurcht vor alten Formen, welche durch Gewohnheit
erträglich rd
mehr ganz

ten. —. ö

uch wenn ſie hier und dort nicht

Dieſe Ehrfurcht, dieſe Anhänglichkeit am Alten hat

man oft lächerlich zu machen geſucht, ohne zu bedenken,

daß Geiſt und Form in dem innigſten Verhältniſſe mit
einander ſtehen; daß mit Zertrümmerung oder Weg⸗-
werfung dieſer auch jener gemeiniglich verloren geht.
In den Formen ſpricht der Geiſt des Menſchen ſich
aus; ſelbſt ſein Innerſtes, Höchſtes — die Religion,
kann für ihn derſelben nicht entbehren; ſie ſprengen
kann nur ohne Nachtheil der Geiſt ſelbſt, der dann ge-
wiß ſchon eine andere, ihm angemeſſenere Form in Be-
reitſchaft hat. Dieſe Formen laſſen ſich aber nicht auf-
dingen, und frevelhaft iſt die Hand, welche gewaltſam
in die noch ſtehenden einbricht, ohne abzuwarten, daß
der darin wohnende Geiſt ſie ſelbſt auseinander treibe;
dann ihm helfen, ſie vollends abwerfen, iſt das Werk
des Weiſen. Ein vorwitziger Schnitt in die Hülle des
ſich entwickelnden Schmetterlinges, ehe er in der ge-
heimen Werkſtatt ſeine geiſtigere Form ganz ausgebil-
det hat, raubt ihm das Leben.

Doch hinweg von dieſen Betrachtungen, die zu ernſte,

noch lange ſchmerzlich hallende Saiten in dem Herzen

des Deutſchen erſchüttern, und noch ein Blick auf den

lluß

glücklichen Frieden, auf die öffentliche Sicherheit, auf
die allgemeine Thätigkeit und auf den allgemeinen
Wohlſtand in dieſen kleinen Stagten. Hier war Jam-
mer und Noth, wo nicht ganz verbannt, doch ungleich
ſeltener als unter einer gleichen Menſchenmaſſe in ei-
nem gleichen Umfange auf dem übrigen Erdenrunde,
und gewiß war hier mehr wahres Menſchenglück zu fin⸗—
den, als in den unermeßlichen Hauptſtädten der gro-
ßen Staaten. — Auch die Huldinnen, die uns das Le-
ben verſchönern, Künſte und Wiſſenſchaften, wareu hier
nicht fremd, wenn ſie auch nicht die bedeutendſten Rol-
len ſpielten. Merkur ſchenkte ja dem Apoll die erſte
Leyer; wie ſollten ſeine Kinder vor ihren himmliſchen
Melodien gleichgiltig vorübergehen? — Auch der Gebil-
dete, welcher höhere Bedürfniſſe kennt, als Gewinn und
Sinnengenuß, konnte hier ſeines Lebens froh werden,
und die freundlichen Bilder von Wohlſein und Ueber-
ſprachen ſein Gefühl wohlthätig an. ö
So fand ich es vor ſechzehn Jahren in Lübeck, und
dieſe Gedanken beſchäftigten mich oft, wenn ich auf den
reinlichen Wällen der ehemals auch Plitiſcht mächtigen
Hanſe⸗Stadt umherwandelte, im Schatten der Bäume,
welche der Friede großgezogen hatte. Jetzt zitterte mein
Fuß, als er dieſe Denkmäler vormaliger Herrlichkeit be-
trat. Hatte die Nemeſis ſie erhalten zu Werkzeugen
ihrer Rache für vielleicht vor grauen Jahren gemiß-
 
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