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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 1 - Nr. 8 (4. Januar - 28. Januar)
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Nr. 8S.

Mittwoch, den 11. Januar 1871.

4. Johrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſcag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schiffgaſſe 4

und bet den Trägern

Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Der Adoptivvater.
Novelle von Emerentius Seävola.

(Fortſetzung.)

Blottmer ſah höchſt beſtürzt den Vater an, und ne-
ben ihm ſtand wie auf Kohlen Gottholde. „Komm An⸗-
ton,“ flüſterte ſie nach einer Pauſe, ihn am Arme mit
ſich fortziehend, und der Athemzug ſtockte dem Alten in

der Kehle, als er Beide Hand in Hand der Thür ſich

nähern ſah. „Da ziehen ſie ab, dort hinein; das wußt'
ich, und ich — ich ſoll hier liegen bleiben? — ſo al-
lein? — nein, und ſollt' ich hiuaus müſſen in Schnee
und Eis, ich ſelbſt, er ſoll auch dabei ſein.“ — Und
nun ſeine Gedankenſprünge unterbrechend, rief er: „O,
willſt Du wohl die Güte haben, meinen Bedienten zu
rufen; ich will aufſtehen, will auf den Speicher gehen
und in die Brennerei; die Leute ſind geſtern ohne Auf-
ben f.en es muß doch revidirt werden, was geſche-
en iſt.“ ö ö
Syprachlos ſiarrte Anton den all' ſeiner Sanftmuth
ſo plötzlich entfremdeten Greis an. — „Er iſt krank,“
flüſterte Gottholde ihm zu. — „Ja, er iſt krank, ſehr
krank; der Doktor muß auf der Stelle wiederkammen,“
entgegnete Anton leiſe und wandte ſich dann zu dem
zänkiſchen Alten: „Lieber guter Vater, bleiben Sie ru-
hig liegen; ich gehe ſogleich in den Speicher, in die
Brennerei und halte in den Scheunen die Runde. Zu
Mittage ſollen Sie Bericht über Alles haben.“
Er küßte die unväterliche Hand, drückte einen Kuß
auf Gottholdens Lippen und gieng. — Es blieb lange
ſtill in dem Zimmer. Gottholde ſaß hinter der Bett-
gardine und nähete, jedesmal, uachdem ſie die Augen
getrocknet hatte, ein paar Stiche; der Papa aber konnte
den Kuß nicht verſchmerzen, den das Paar gewechſelt
hatte vor ſeinen Augen; er lag mit den Spornrädern
ſpielend und unaufhörlich ſinnend, wie auch er eines
ſolchen Kuſſes theilhaftig werde; da ward er des Pa-
kets unter ſeiner Decke eingedenk; er zog es leiſe her-

vor, erbat ſich Gottholdens Scheere und ſchmitt den

Bindfaden entzwei. „Hm, hm,“ murrte er, „Gotthold-
chen ſteh,“ ſeine Siimme ward ſüßer, „da hat Dir der
Blottmer von Breslau etwas mitbringen ſollen, etwas
Schönes, das Schönſte, was zu haben war, und ſchau
einmal her, was er Dir ausgeſucht hat; dieſes Um-
ſchlagetuch, ſo grob, ſo —“

— „O, es iſt ſchön“, fiel Gottholde ein. — „Nein,“

es iſt erbärmlich, Engelchen; und hier dieſe ſechs Paar
Handſchuhe; ich muß mich ja ſchämen, es Dir zu ge-
ben, wenn nicht hier in der Pappſchachtel etwas Beſſe-

res enthalten ſein ſollte. — O weh, ein miſerables
Häubchen; und dieſes Kragentuch, wie ſchlecht geſtickt;
nein, mein Lämmchen, wenn ich geſund ſein werde,
dann reiſen wir nach Breslau und dann ſollſt Du Dir
Alles ausſuchen, was Dir gefällt.“
„O, lieber Vater, wann hätt' ich je ein Geſchenk
wie dieſes erhalten?“ entgegnete Gottholde. „Iſt's
Dein Ernſt, Liebchen? Du nimmſt es? Du freuſt Dich
darüber?“ frug der Alte.
„Sehr, ſehr, gewiß,“ betheuerte ſie, ſeine Hand an

ihr Herz und an ihre Lippen drückend, und ſetzte mit

feuchten Augen hinzu: „Aber Alles will jch entbehren,‚
wenn Sie nur immer geſund und gütig und nachſichtig
bleiben gegen uns.“
Der Papa ſchwamm in einem Meere von Entzücken.
„Wie, Engelchen? nachſichtig? gütig? o, wenn Du mich
nur lieb haſt, mich! — Haſt Du? — ja — dann —.
Kindchen — dann gib mir doch — doch auch einen
Kuß.“ ͤ ö ö
Jetzt war das ſchwere Werk vollbracht, und kaum
war das gewichtige Wort ihm über die Lippen geglit-
ten, als Gottholde ſich ſchnell über ihn beugte und herz-
lich ſeinen geſpitzten Mund küßte.
Er ſchlug die Augen über ihr zuſammen, hörte
nichts, ſah nichts, bis er halb erſtickt, Athem ſchöpfen
mußte, und vielleicht lange noch den empfangenen Kuß
wiederkauend mit halbgeſchloſſenen Augen gelegen haben
würde, wenn Gottholdens Ausruf: „Anton!“ nicht
weckend in ſeine Ohren gedrungen wäre. Er blickte
auf und vor ihm ſtand Anton.
„Was? — Du? — Iſt's ſchon Mittag?“ ſtotterte

der Alte. ö

Blottmer ſchien ſich beſinnen zu müſſen, welche Ta-
geszeit es ſei, und erſt nach einer langen Pauſe ant-
wortete er: „Nein, lieber Vater, es iſt noch nicht Mit-
tag; ich komme nur, um Ihnen zu melden, daß ein
Breslauer Schlächter angekommen iſt, um Ihre Fett-—
hammel zu kaufen.“
„Weiter nichts? — Und darum? — Nein, ich will
ſie nicht verkaufen, brauche ſie ſelbſt,“ rief der Papa
in auffallend zänkiſchem Tone. Blottmer ſah ihn prü-

fend an, blieb noch, als wolle er Gegenvorſtellungen

machen, ein paar Sekunden lang ſtehen, flüſterte halb
ſich ſelbſt, halb Gottholden zu: „Er iſt ſehr krank!“
 
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