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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 52 - Nr. 60 (1. Juli - 29. Juli)
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Nr. 60.

Samſtag, den 29. Juli 1871.

4. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſcag.

Preis monatlich 1 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schiffgaſſe 4

und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

— —

Die Braut vom Richtplatz.
Ruſſiſche Volksgeſchichte.

Wer hätte bei uns nicht vou dem Volksglauben ge⸗—
hört: man hole oder man könne ſich eine Braut „un-
ter der Karte wegholen“ — wie das Volk in ſeinen
Erzählungen von dieſer wunderlichen Sache ſich auszu-

drücken pflegt! Die Sache iſt um ſo wunderlicher, da-

es kein Geſetz giebt, noch je gegeben hat, welches auch
nur die Moͤglichkeit dieſes vermeintlichen Brauches zu-
ließe; und dennoch glaubt das Volk in ganz Rußland

daran und erzählt die Ueberlieferungen wieder, die ſich

darüber erhalten haben. Hier iſt eine derſelben, die,

wie alle ähnlichen, ſich auf die eingewurzelte Meinung

gründet, daß, wenn ſich Jemand finde, der im Augen-
blick, wo die Strafe an einer Verbrecherin vollzogen

werden ſoll, öffentlich das Verlangen kundgiebt, ihre
Schuld zu decken, d. h. ſich mit ihr zu vermählen und
die Verantwortung für ſie zu übernehmen, die Strafe
ihr ſofort erlaſſen, und die Begnadigte mit dem ihr

vom Schickſal geſendeten Bräutigam gleich zum Trau-
altar geführt werde. Konnte nicht in der That Aehn-
liches, von der Sitte allein geheiligt, vor Alters ſtatt
gefunden haben, zu einer Zeit, wo die ſtaatliche und
geſellſchaftliche Ordnung ſich mehr auf Gebräuche als
auf geſchriebene Geſetze gründete? — Folgendes erzählt
uuter Anderem die Ueberlieferung:
In einem unſerer mittleren Gouvernements lebte
in einem ſtattlichen Dorfe ein nicht unvermögender
Bauer. Er hatte Familie und darunter eine Tochter
mit Namen Daria. Dieſes Mädchen zeigte von klein
auf in ihrem Weſen viel Eigenthümliches, was weder
ihre Eltern noch Andere aus ihrer nächſten Umgebung
begreifen konnten, oder auch nur zu begreifen ſich
Mühe gaben, und was ſie ſogar in der Folge nicht
recht zu erklären wußten. Einige nannten ſie hartnäckig,
ſelbſt boshaft, während Andere behaupteten, gegen gute
Menſchen ſei ſie gut über alle Maßen, aber ihr Herz
ertrage keine Beleidigung oder Ungerechtigkeit, und bos-
haft ſei ſie nur dann, wenn ſie fälſchlich beſchuldigt
würde, was ſie ſchlechterdings nicht litte. Sie war,
verſicherte man, mitleidig und folgſam, wenn man fie
nicht durch rohe Scheltworte, durch Verläumdung, oder
durch ungerechte und ihre Kräfte überſteigende Forde-
rungen reizte. Als ſie jedoch groß und, wie man zu

ſagen pflegt, heirathsfähig wurde, war alles Das bald
vergeſſen und der gute Ruf Daria's verbreitete ſich in
der ganzen Umgegend. Sie hatte ſchwarzes Haar und
ſchwarze Augen, war für eine Bäuerin ſehr weiß, groß
und ſchlank;' von äußerſt lebhaften und ausdrucksvollen
Zügen, und wegen ihres geſunden und klaren Verſtan-
des erhielt ſie den Beinamen „Trumpfmädel.“ Auch
war ſie als das arbeitſamſte Mädchen im Dorfe be-

kannt; es ging ihr nicht allein, es flog ihr von den

Händen; an die Arbeit machte ſie ſich ſtets unter Scher
zen und Singen. Wenn aber zu Zeiten Daria aus
Anlaß irgend einer Kränkung oder eines Uurechts ver-
ſtimmt ward, ſo ſchwieg ſie eine ganze Woche und
wurde nicht eher die frühere luſtige Sängerin, als bis
ſie ihrem Beleidiger die ganze Wahrheit ins Geſicht ge-
ſagt hatte, und ohne die Antwort abzuwarten, hinzu
fügte: Nun geh' in Gottesnamen! ö ö ö
Natürlich hatte ein ſolches Mädchen viele Bewer-
ber; es wird erzählt, daß, als zwei derſelben um ih-
retwillen in Streit geriethen und beinahe handgemein
wurden, ſie ihnen zugerufen habe: „Halt, nicht gerauft,
ihr dummen Kerle! Kommt doch lieber her, ſo will

ich euch Beide mit eigenen Händen ausklopfen, und

jage euch mit den Waſſerkannen zum Hof hinaus!“
Auch wird erzählt, Daria ſei einem armen, elternloſen
Burſchen, Namens Jakow, der im Dorfe als Taglöh-
ner lebte, geneigter geweſen, als all' ihren anderen
Anbetern; doch verſteht es ſich von ſelbſt, daß dieſer
Burſche nicht ihresgleichen war, und daß Daria an
einen ſolchen Freier nicht einmal denken durfte. Es
fand ſich ein Anderer, nach dem Herzen ihres Vaters
und nach dem Geſchmack ihrer Mutter: der Sohn des
Amtsbezirksſchreibers, ein junger Stutzer, von ſtattli-
chem Aeußeren und hübſchem Vermögen, aber zweideu-
tigem Ledenswandel. Sein Vater, obgleich ſelbſt dem
Trunke ergeben, ſchlug ihn mehr als einmal, wenn er

aufgeräumt aus der Stadt zurückkam.

Dieſer Freier gefiel Daria durchaus nicht. Lange
verſuchte ſie durch Bitten bei Vater und Mutter von
ihm loszukommen, und nannte, ihn in's Geſicht einen
Unverſchämten, weil er nicht von ihr ablaſſen wollte;
endlich aber mußte ſie ſich fügen und ihn heirathen,
weil in ſolchen Fällen die Eltern allein entſcheiden, die
das beſſer verſtehen, als Unſereins. Das Hauptargu-
ment der Eltern war, auch die Mütter habe ihrerzeit
den Vater Daria's nicht heirathen wollen, und es ſpä-
ter doch gethan, und nun, Gott ſei Dank, lebten ſie

miteinander. Die Hochzeit wurde gefeiert; Daria's
 
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