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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 17 - Nr. 25 (1. März - 29. März)
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Nr. 2I.

*

Mittwoch, den 15. März 1871.

4. Jahrh.

Erſcheint Mittwoch und Samſtagz⸗ Preis monatlich 12 kr.
und bei den Trägern.

Einzelne Nummer à 2 kr.
Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Man abonnirt in der Druckerei, Schiffgaſſe

Die Stimme des Gewiſſens.
Aus dem Tagebuch eines engliſchen Adpokaten.

Es war ein rauher Dezemberabend. Der darauf
folgende Sonntag war mir willkommen, um mich von-

den Unannehmlichkeiten des Winters, welchen ich durch
polle ſechs Tage, meiner Geſchäfte wegen, ausgeſetzt
war, zu erholen. Es ſchlug neun Uhr und ich wollte
mich eben zum Abendeſſen ſetzen, da klopfte es und ein
Bote überbrachte mir einen Brief. Unwillig öffnete
ich ihn. Er war von einem alten Freunde, Walter
Moreton. Dringend erſuchte er mich, zu ihm nach Cam-
bridge zu kommen. ö
Das Schreiben ſchloß mit den Worten: „Verſchie-
ben Sie Ihre Reiſe nach Empfang dieſes nicht lange.
Kommen Sie nicht nur als Freund, kommen Sie auch
als Rechtsgelehrter zu mir. Meine dringende Bitte
wird durch die Veränderung Aufklärung erhalten, die
Sie finden werden an Ihrem Walter Moreton.“
Ich war mit Walter Moreton in ſeiner Jugend
und in den männlichen Jahren bekannt; wir waren
mit einander ziemlich bekannt. Was mir ſeinen Um-
gang anziehend machte, war mehr die Scharſſinnig-
keit ſeiner Bemerkungen, als ein zwiſchen uns beſte-
hendes Gleichgefühl. In den letzten Jahren hatte ich
von Moreton überhaupt nur wenig gehört, ich wußte
aber, daß er geheirathet hatte, daß er in ſehr beſchränk-

ten Umſtänden geweſen war, daß ſein Schwiegervater.

geſtorben und Moretons Frau ein großes Vermögen
hinterlaſſen hatte. daß ſie auch geſtorben war und ihn
zum reichen Manne gemacht halte, daß er wieder ge-
heirathet und jetzt Vater von drei Kindern war. Dem
Inhalte des empfangenen Vriefes zufolge, konnte ich
kaum etwas anders glauben, als daß Walter Moreton
gefährlich krank ſei, und vor ſeinem Austritt aus die-
ſer Welt ſeine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen
wünſche. Meine alte Bekanntſchaft mit Moreton würde
mich ohnehin ſchon bewogen haben, ſeiner Einladung
Folge zu leiſten; der Umſtand aber, daß er auch meine
Hülfe als Rechtsgelehrter verlangte, machte, daß ich um
ſo ſchneller abzureiſen beſchloß. Den nächſten Morgen

ſchon ganz früh beſtieg ich den Poſtwagen nach Cam-
bridge und nachdem ich unterwegs in größter Eile ein

Mittagsmahl zu mir genommen hatte, ging ich nach

Walter Moretons Hauſe in der Trumpingtonſtraße.
— Ich war auf eine Veränderung vorbereitet, aber
wahrlich nicht auf eine ſolche Veränderung, als ich fand.
Walter Moreton konnte noch nicht vierzig Jahr alt
ſein, dennoch erſchien ar mir wie ein Siebziger; ſein
Scheitel war ſparſam mit grauen Haaren bedeckt; er
war eingefallen, hohläugig wie ein Skelett, und ſein
Angeſicht war leichenblaß. Auch ſeine Sprache war
verändert; in ſeinem Auge war eine ängſtliche Unruhe
ſichtbar; ſeine Lippen waren ſchmal geworden. Dabei

zitterte er am ganzen Körper und ſchien an Nerven-

ſchwäche ungemein zu leiden.
Er empfing mich mit ſichtbarer Freude, dankte mir,
daß ich ſeinen Wunſch ſo bereitwillig erfülle, und ſagte
mir dann, daß er bei Verfügung über ſein Beſitzthum
meiner amtlichen Dienſte bedürfe. Aus einer gewiſſen
Zurückhaltung und aus ſeinem zerſtreuten Weſen ward
es mir indeß nicht ſchwer, die Bemerkung zu machen,
daß er mich mehr einer andern Angelegenheit wegen,
als eines einfachen Teſtamentes, nach Cambridge beru-
fen hatte. Ich ſagte ihm daher nichts über das ver-
änderte Aeußere, in welchem ich ihn finde; äußerte
aber die Hoffnung, daß ſein Verlangen nach meinem
amtlichen Beiſtande nicht Folge von Beſorgungen, in
Betreff eines nahen Endes ſein könne, worauf er blos
erwiederte: er befinde ſich nicht ſchlechter, wie gewöhn-
lich; es ſei aber immer gut, bereit zu ſein. Er fuhr
dann fort: Kommen Sie, Thornton, laſſen Sie uns
zum Zwecke ſchreiten. Ich erwiederte, daß ich hiezu be-
reit ſei. ö
Ich brauche kaum zu ſagen, daß ich auf Verhalt-
tungsregeln gefaßt war, das Vermögen des Vaters
nach irgend einem Maßſtabe von Theilung, oder viel-
leicht nach irgend einem launenhaſten Vorzuge, den er
unter ſeinen Kindern mache, zwei Söhnen und einer
Tochter, Kindern von ſehr zartem Alter, zu vertheilen,
und ſeiner Frau ein Einkommen auf Lebenszeit zu
ſichern. Mein Erſtaunen war daher ſehr groß, als Herr-
Moreton nach Feſtſetzung einiger unbedeutenden Legate,
mir zwei ganz unbekannte Perſonen, von deren Ver-
hältniſſen mit dem Teſtator mir durchaus nichts be-
kannt war, als Univerſalerben ſeines ungeheuern Ver-
mögens nannte.
Meine Feder niederlegend und aufblickend ſagte ich
ſtockend: Herr Moreton, Sie haben Frau und Kinder.
Ich habe Kinder, ſagte er, doch Gott bewahre ſie
ror dem Fluche des Reichthums, der ihnen nicht zu-
ommt. ö
 
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