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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 9 - Nr. 16 (1. Februar - 25. Februar)
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Heidelberger

Volksblatt.

Nr. 10.

Samſtag, den 4. Februar 1871.

4. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſcag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schiffgaſſe 4

vynd beir den Trägern.

Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Die zwei Brüder.
. (Aus dem Engliſchen überſetzt von H — m — r.)

Sehr zu beklagen iſt es, daß oft aus unbedeutenden
Veranlaffungen über Menſchen ſchnell und mit Beſtimmt-
heit geurtheilt wird, weil man ſich viel zu leicht den

men; ein der Art Verfolgter unterliegt daher ſelten

gänzlich, weil immer noch die Geſellſchaft Tauſende

zählt, denen nichts von dem Fehler des Bezüchtigten be-
kannt geworden, ſie daher ſein verwundetes Selbſtge-

erſten Eindrücken hingiebt; und ſogar, wenn es ſich in

der Folge herausſtellt, daß dies Urtheil irrig war, die
Meiſten doch aus eigenliebigen Verdruß, unrichtig ge-
urtheilt zu haben, ſich darüber eher ärgern, als freuen
werden, während ſie, wenn ihre Anſicht richtig war,
triumphirend ausriefen: Da haben wir es! — Habe
ich es nicht geſagt? — Immer war dies ja meine Rede.
— Ich weiß nicht, woher es kam; nie mochte ich die-
ſen Menſchen wohl leiden, — O, arme Menſchheit! —
Wenn nun noch ſolche übereilte Beurtheilungen junge
Leute betreffen, ſo müſſen ſie unfehlbar höchſt verderb-
lich auf ihreu Charakter und ihr ganzes künftiges Le-
ben einwirken. Wie mancher junge Mann ward wirk-
lich verſchlechtert, weil ſeine Umgebungen ſeinen guten
Eigenſchaften, die doch die weniger lobenswerthen an
ihm ausglichen, nie Gerechtigkeii widerfahren laſſen
wollten. Mit welcher Bitterkeit muß ſein Herz erfüllt
werden, wenn er ſieht, daß alle ſeine Handlungen ſtets
übel gedeutet werden? ſeine urſprünglich gute Gemüths-
art wird abgeſtumpft, ſeine Menſchenliebe zerſtört, und
endlich gewinnen die böſen Leidenſchaften die Oberhand,
er wird zum rachſüchtigen Menſchenfeinde, der weil man
ihn nicht ſchonte, keinen Andern mehr ſchonen zu müſ-
ſen glaubt.
Dieſes Uebet und deſſen ſchädliche Folgen trifft man
häufiger in kleinen, als in großen Städten an, ſie find
auch in jenen bei Weitem auffallender; das wenig be-
wegte Leden in Landorten haſcht begieriger nach anſtöͤ—
ßigen, ehrenrührigen Geſchichtchen, die aus dem engbe-
ſchränkten Kreiſe der Geſellſchaft ſich bald dem ganzen
Orte mittheilen, und daher iſt das unglückliche Opſer
einer ſolchen vorgefaßten Meinung im buchſtäblichen
Sinne als ein Ausgeſtoßener und Verbannter bezeich-
net. In den größeren Städten hingegen laſſen die
vielſeitigen Geſchäfte, die verſchiedenen Unterhaltungs-
gegenſtände und die große Auswahl ſcandatiöſer Ge-
ſchichtchen es nicht zu ſolchen verderblichen Folgen kom-

fühl heilen, und durch ihre Liebe und ihren Beifall ihn
wieder zur Selbſtachtung erheben werden. ö
Die folgende Erzählung mag vielleicht dazu dienen,
die nur zu gemein gewordene und durch das bekannte
Sprüchwort: „Gieb dem Hunde einen böſen Namen,
und häng ihn auf,“ bezeichnete Gewohnheit zu erläu-
tern. ö ö
In einem Dorfe an der Küſte von Suſſex wohnte
ein wohlhabender Pächter, Namens Longfield; er war
ein gradſinniger, vortrefflicher Mann, gewiſſenhaft in
Erfüllung ſeiner Pflichten, der vielleicht zu genau das
Nämliche auch von Andern forderte. Er war ſtreng
gerecht, doch dieſe Strenge war bei ihm mehr aus Grund-
ſatz, als in ſeiner Natur.
Der Verluſt ſeiner geliebten Gattin trübte noch mehr
die ihm angeborene melancholiſche Gemüthsſtimmung,
die jene durch ihren liebevollen Einfluß lange verhü-
tet hatte, daß ſie nicht in ſtarre Härte ausartete. Sie
hinterließ ihm zwei Söhne. Der ältere war von Na-
tur wild, ungeſtüm, leidenſchaftlich, eigenſinnig und
kühn; dagegen freimüthig, edeldenkend und theilnehmend;
weil er aber ſtets aus innerm Antrieb eher als nach
Gründen handelte, wurden ihm ſeine Tugenden oft nach-
theiliger, als Andern ihre Laſter, denn, ſeiner guten
Abſicht bewußt, aber ärgerlich, daß man ihn mißver-
ſtand, vergalt er den Tadel, dem er ſich oft unverdient
ausgeſetzt wußte, mit übermüthiger Nichtbeachtung, oder
mit ſtoizem Hohne. Solch ein Charakter hätte der zärt-
lichſten Pflege und Sorgfalt einer Mutter bedurft, um
ihn zu ſänftigen und zurückzuhalten; hierzu konnte je-
doch ſein Vater, ſo ein guter Mann er auch war, und
der ihn herzlich liebte, unmöglich geeignet ſein; er war
viel zu unbiegſam, beſtand zu ſtrenge auf vollkommene
Pflichterfülluug, ſein Tadel war zu demüthigend, und
dadurch, daß er der Reue ſeines Sohnes, wenn dieſer
ſeinen Fehler anerkannt, nie Glauben ſchenkte, benahm
er deſſen ſtolzem Geiſte den Muth, ſich zu heſſern. Nur
eine Frau, deren wilder Sinn, während ſie tadelt, zu-
gleich Mitleid zeigt, vermag ein junges feuriges, dabei
aber gefühlvolles Gemüth zur Tugend zurückzuleiten.
Sein Stolz giebt eher ihrer Zurechtweiſung als jener
eines Mannes nach; da ſie nicht aus mütterlicher Ge-
walt zu handeln ſcheint, erweckt ſie deſſen beſſere Ge-
fühle und indem ſie nur Vertrauen auf die Güte ſei-
 
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