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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 61 - Nr. 69 (2. August - 30. August)
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Nr. 63.

Mittwoch, den 9. Auguſt 1871.

4„. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſcag. Preis monatlich 19 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Sch
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

iffgaſſe 4

Der Fremde.
(Fortſetzung.)

Der beinahe ſiebenzigjährige Todtengräber war eben
beſchäftigt, ein neues Grab zu graben. Zwar hatte das
Alter ſeine Geſtalt ſchon etwas gebeugt, wenige Silber-
locken drangen unter der grauwollenen Mütze hervor und
umſpiegelten die tiefgefurchten Schläfe; dennoch arbei-
tete er rüſtig fort, und ſummte dabei mit leiſ' gedämpf-
ter Stimme folgende Worte vor ſich hin:
Pilg're. immer fort
Hin und her auf Erden,
Weder hier, noch dort,
Wird Dir Ruhe werden.

Nichts als Trug und Schein
Bieten Welt und Leben /
Frieden kann allein
Nur die Gruft Dir geben.

Auch ein glänzend Loos ö
Reicht Dir nichts als Schmerzen,
Doch im kühlen Schooß
Stirbt der Wurm am :
Der greiſe Sänger vollendete die Strophe nicht;
denn indem er zufällig aufblickte, ſchaute ihn das gram-
beſeelte Geſicht des Fremden mit den großen, düſteren
Augen über ein ſtehen gebliebenes Mauerſtück geiſter-
ähnlich an, Aufmerkſam begegneten die Blicke des
Todtengräbers den ſeinigen.
Laßt Euch nicht ſtören, begann dieſer näher tre-
tend und zog achtungsvoll den Hut.
Der Alte legte mit Soldatenanſtand die Hand grü-
pend an die Mütze, Verzeiht, Herr, entgegnete er, Euer
Anblick iſt mir fremd, und zog, da man hier ſelten
Fremde ſieht, meine Aufmerkſamkeit an. ö
Die meinige das Lied, bei dem ich Euch wider mei-
nen Willen unterbrochen habe, verſetzte Jener.
So ſeid Ihr der Erſte, dem vielleicht meine Weiſe
nicht mißfällt! äußerte der Todtengräber.
Ich denke doch, rief der Fremde, Euer Lied und
Euer Geſchäft ſpricht Jedem an's Herz.
Mit nichten, wandte der Alte ein. Die Menſchen
ſcheuen meinen Anblick, mehr noch meine Lieder und
am meiſten mein Geſchäft. Freilich follten ſie das
nicht, denn glaubt mir, mein Geſchäft iſt das wohlthä-
ligſte für die Kinder dieſer Welt.

Seid Ihr deſſen ſo ſicher? Scheidet nicht Man-
cher mit Recht ungern vom freundlichen Leben? fragte
Jener. ö
Glaubt mir, verſicherte der Andere, wer ſo eine ge-
raume Weile dem Thun und Treiben der Menſchen zu-
geſehen hat, wie ich, der lernt nach und nach einſehen,

daß wahres Glück auf Erden nirgends und der Friede

nur im Grabe wohnt. Mag auch hie und da ein Loos
uns freundlich ſcheinen, es ſcheint nur ſol — Seht,
jenes friſche Grab deckt die Hülle einer jungen Frau,
welche drei Tage nach der Hochzeit ſtarb. Jedermann
beklagte ſie, denn ſie hatte, was man in Hülle und
Fülle zu leben nennt, ihr Mann war der reichſte Bauer
im ganzen Dorfe; ich allein wußte, daß ſie ihm wider
Willen zum Altar folgte, und daß ihr das Leben an
ſeiner Seite zur Hbllenmarter wurde. Ihr iſt beſſer

ſo, ſagte ich, als man ſie hier einſenkte, und Alle rie-
fen: der alte Anton Ripen hat doch ein Herz von

Stein! — Dieſes ſchmale Grab wird morgen den Leich-

nam eines Mannes bergen, der im Leben nie genug

hatte, und aus Furcht, um ſein unrechtmäßiges Gut
beſtohlen zu werden und aus Sorge, es zu vermehren,
weder Tag noch Nacht ruhen konnte. Jetzt ſind ſeine
Sorgen mit ihm eingeſchlummert und an dieſem ſchma-
len Raume in der Erde hat er genug. — Doch ich
will Euch nicht mit Belegen für meine Anſichten ermü-
den, deren ich an jedem Grabe einen fände.
Ihr ſeid ein ganz guter Cicerone, fahrt nur immer
fort! rief der Fremde.
O, Herr, verſetzte der Alte, Ihr mögt wohlt ſelbſt
ſchon erfahren haben, was des Lebens Inhalt iſt. Min-
deſtens verräth Euer Antlitz, daß Euch das Leben nicht
freundlich gelächelt hat. Verzeiht, ich meine nicht, was
ſo Weltſeelen Glück nennen, ſondern das Innere, Zu-
friedenheit. — ö
Ich verſtehe Euch, Alter, fiel Jener ein. Ihr ſcheint
mir einen geübten Blick zu haben, wenn es gilt, das
Innere des Nächſten zu durchſchauen. — Aber ſagt
mir doch, habt Ihr denn auch ſelbſt nie im Leben ge-
funden, was Ihr unter Glück begreift!
Ja, ſeht nur, da hege ich wieder ſo meine ganz ei-
gene Meinung, erwiederte der Greis. Ich habe wich
nämlich von jeher gewöhnt, an allen Dingen die gute
Seite aufzuſucheu. Gut iſt auch eigentlich Alles, was
das Leben mit ſich bringt, wenn der Menſch nur ſelbſt
gut iſt, und das wahre Glück, die Zufriedenheit, fehlt
bei dieſem Grundſatz nie ganz. Doch, er iſt nicht all-
gemein. ö
 
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