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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 61 - Nr. 69 (2. August - 30. August)
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Mittwoch, den 2. Auguſt 1871.

4. Johrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnert in der Druckerei, Schiffgaſſe 4
uund bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten. —1—1

7 77 7 — . · * * 71* * + * *

Die Braut vom Richtplatz.
Puſſiſche Voltsgeſchichte.
(Schluß.)

Nach und nach wurde die Stube geräumt; die un-

gebetenen Beſuchexinnen gingen zum Theil auseinau-

der, zum Theil ließen ſie ſich vor der Thüre nieder

und unterhielten ſich gegenſeitig durch ſpaßhafte Ge-

ſchichten. Als Daria allein geblieben, und nach dem
betäubenden Lärm um ſie her Ruhe eintrat, gerieth
ſie auf eiumal in eine gewiſſe Unruhe und fieberhafte

Bewegung; brennende Röthe bedeckte ihr Geſicht, von

Neuem funkelten ihre Augen; ſie blickte ſcheu um ſich.

Ohne die Leiche des Kindes von ihrer Bruſt wegzuneh-
men, ſchlich ſie leiſe an den Tiſch und ergriff ein gro-

ßes Brodmeſſer. Es ſchien nach Allem, daß ſie in ih-
rer bewußtloſen Verzweiflung Hand an ſich legen wollte;
ſie prüfte mit dem Finger die Schärfe des Meſſers,
dann ſah ſie ſich wieder vorſichtig um und horchte auf

die Stimmen der Weiher unter dem Fenſter; endlich
ließ ſie die Hand ſinken und verlor ſich im Anſchauen

ihres todten Kindes. In dieſer Stellung befand ſie ſich
noch, als ſie lautes Reden und Lärmen auf der Straße

vernahm; es war Atſen, der vom Felde heimkam und

den die alten Weiber in gemeinſamem Chor mit Bei-
leidsbezeugungen und Erzählung des Vorgefallenen em-
pfingen.

ten: „Schlag ſie nur ja nicht, Liebſter, ſchlag ſie nicht,
das wäx' eine Sünde; ſie that's ja ohne Willen, es
war Gottes Rathſchhß.“

Alſen trat ein, hinter ihm her die Schaar der Nach-

barn und Nachbarinnen. Als Daria Geräuſch hörte,
fuhr ſie zuſammen und zog die Hand mit dem Meſſer

hinter ſich zurück, wie wenn ſie es verſtecken wollte.

Alſen trat ganz ruhig und gleichgiltig an ſie heran,

warf einen Blick auf die Leiche des Kindes, dann auf

Daria und ſprach, indem er ſich abwendete: „Was iſt's
weiter! Ein Baſtard weniger im Dorf.“
Kaum hatte Alſen das geſprochen, als er einen gel-
lenden Schrei that und zu Boden fiel.

pfing Eines der Weiher klammerte ſich ſogax an
ihn und verfolgte ihn bis in die Stube mit den Wor-

en Man ſprang
ihm bei: Alſen's ganzes Geſicht war mit Blut bedeckt,
er athmite röchelnd; man hob ihn auf und jetzt erſt.
gewahrte man mit Schrecken, daß in ſeinem Halſe ein.
großes Meſſer ſtack, welches faſt bis an den Griffeein-

gedrungen war. Niemand hatte bemerkt, wie das ge-
ſchah; kaum der eine und der andere der im Zimmer
auweſenden Alten hatte eine raſche Bewegung von Da-
ria's Hand wahrgenommen, wie wenn ſie den Mann
zurückſtieß oder ihm abwehrend einen Schlag verſetzte.
Eein Schrei des Schreckens erſcholl im Hauſe Al-

ſen's, dann auf der Straße und wuchs bald zu einem

vielſtimmigen Geheul, welches ſich durch das ganze
Dorf und über die Felder verbreitete. „Daxia hat ih-

ren Mann erſtochen,“ riefen die Begegnenden einander

zu, über die Gaſſe, über Höfe, Verſchläge und Hanf-
felder — und als nach einer Viertelſtunde der unglück-
liche Alſen wirklich ſeinen Geiſt aufgab, dachte Niemand
mehr daran, einer tauben Aiten, der berühmten Heu-
lerin, Einhalt zu thun, die ſich auf einen Baumſtumpf
ſetzte, wo ſie ſich berufsmäßig wie zu Hauſe einrichtete
und, die Hände zuſammenſchlagend, ſich in Todtenkla-
gen ergoß, die freilich auch keiner hörte.
Daria wurde in Ketten gelegt; die Unterſuchung
und die Rechtsprocedur nahm ihren Gang und wurde
ſehr ſchnell beendet, da die Sache eine ſehr einfache
war; die Ausſagen der ſämmtlichen Zeugen und der
Verbrecherin ſelbſt ſtimmten in Allem überein. Daria
erklärte nur, daß ſie ſich nicht mehr deutlich beſinne,
wie es geſchehen; wohl aber wüßte ſie, wie ſie ganz
außer ſich gerathen, als Alſen in Gegenwart Anderer
ihr Kind mit einem Schimpfnamen genannt, und ihr
ſelbſt einen Makel angeheftet, welchen ſie durch nichts
verſchuldet hätte. Dieſen Vorwurf habe ſie auch frü-
her kaum zu ertragen vermocht; jetzt vollends habe er
ſie um alle Beſinnung gebracht, und nur dunkel erin-
nerte ſie ſich, was geſchehen ſei. Jakow, der ebenfalls
verhört wurde, weinte heftig, rang die Hände und rief.

Gott zum Zeugen an, daß weder er noch Daria fich,

vergangen; Alſen hahe, Gott weiß warum, gegen die
arme Daria eine grundfalſche Beſchuldigung erhoben.
Dem mochte nun ſein wie ihm wollte, Daria wurde
als des Mordes überführt und geſtändig zur Strafe
auf offenem Markte verurtheilt. Der beſtimmte Tag.
kam heran, und alle Anſtalten waren auf dem Markt-
platz der Gouvernementſtadt getroffen, wo diesmal we-
gen der Prokowiſchen Meſſe eine Menge Volkes zuſam-
menſtrömte. ö ö ö
Wir wollen nicht die Einzelheiten der damals üb-
lichen Vollſtreckung ſolcher Urtheile beſchreiben; ſie
Ind allbekannt, und wer ſie etwa nicht kennt, verliert
nichts daran. Als die Verbrecherin herbeigeführt wurde,
bemächtigte ſich Mitleid und Schreck der zahlloſen Menge.
 
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