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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 70 - Nr. 78 (2. September - 30. September)
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Nr. 7l.

Mittwoch, den 6. September 1871.

L. Jahrg

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schiffgaſſe 4
und bei den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten. ö ö

Der Sohn des Millionärs.
(Fortſetzung.) ö

Bei dieſen Worten ſtrahlteun die Augen des jungen
Mädchens vor Freude; aber ein Ausdruck des Miß-
vergnügens verbreitete ſich ſogleich über ihr Geſicht,
als Emil hinzugeſetzt hatte: ö
Sie haben gewiß nicht Pianoforte geſpielt, ſonſt
würde ich errathen haben, daß Sie die wären. ö
O, warum ſpotten Sie meiner? ſagte Juliette in
traurigem, aber ſanftem Tone; das iſt nicht ſchön von
Ihnen, ich habe Sie für ſo gutherzig gehalten.
Ich über Sie ſpotten? ſagte Emil, dem dieſe kind-
liche Natürlichkeit immer mehr intereſſirte, nein, das
würde ich mir nicht verzeihen! ö
Und gleichwohl thun Sie es, denn nicht ohne Ab-
ſicht ſprechen Sie von dieſem ſchlechten Pianoforte;
wenn Sie wenigſtens, als Sie Zeuge meiner Unwiſſen-
heit waren, hätten errathen können, wieviel ich dabei
ausgeſtanden habe ..
Befehle meiner Mutter zu gehorchen.
Fürwahr, mein Fräulein, es iſt mir ſehr leid, Ih-
nen Kummer gemacht zu haben.
Wohlan, entgegnete Juliette, jetzt will ich Ihnen
glauben; aber ſagen Sie mir offen, baben Sie ſich
nicht über meine Muſik und Deklamation auf meine
Koſten luſtig gemacht? ö
Glauben Sie das nicht, glauben Sie das nicht.
Doch, ich glaube es und denke immerwährend da-
ran, denn es hat mich gekränkt; ich fürchtete, Ihnen
mißfallen zu haben. „ ö
Das in dieſen Worten enthaltende Geſtändniß ging
für den, zu welchem ſie geſprochen wurden, nicht ver-
loren: was das junge Mädchen anbetraf, ſo hatte ſie
nicht im Mindeſten nur geahnt, welche Deutung die
ihr entfallenen Worte zuließen. In dieſem Augenblicke
umflog eine große Wespe ſummend die beiden Spre-
chenden und ſchwebte einmal herüber, einmal hinüber,
als wählte ſie ſich mit Bedacht den Kopf aus, auf den
ſie ſich ſetzen wollte. Emil ſtand auf und verjagte ſie
mit ſeinem Schnupftuche; aber gar nicht lange, ſo war
ſie wieder da und diesmal ſchien ſie es entſchieden auf
das Geſicht des jungen Mädchens abgeſehen zu haben,
das ſie in immer engeren und immer engeren Kreiſen
umſchwärmte. Herr Raymond verfolgte die Wespe von

wie ſchwer es mir wurde, dem

Neuem mit ſeinem Tuche, bis er ſie aus dem Geſichte
verloren hatte, und ſetzte ſich dann wieder auf die
Bank nieder. ö
Es iſt unglaublich, ſagte er, wie zudringlich dieſe

infamen Inſekten ſind.

Ja, erwiederte Juliette, aber ſonderbarer iſt es
noch, daß es Ideen giebt, die ihnen ähnlich ſind; je
mehr man ſich von ihnen losmachen will, deſto öfter
kehren ſie zurück.
Emil lächelte und ſtimmte die Unterhaltung in ei-
nen etwas höheren Ton.
Da Herr Raymond den Bereich der Kenntniſſe ei-
nes jungen Mädchens nicht überſchritt, ſo bewegte ſich
Juliettens Geiſt heiter und ungezwungen, und er ent-
deckte mit immer wachſendem Intereſſe, daß es dieſem
harmloſen Weſen gar nicht an Verſtand und Scharf-
ſinn fehle: Einige Stunden Unterricht, ſagte er bei
ſich ſelbſt, werden ſie zu einem ſcharmanten Frauen-
zimmer machen. — ö
Die geſpannte Aufmerkſamkeit auf beiden Seiten
begünſtigte einen neuen Angriff der Wespe, die, nach
Wespenart, nur einen Scheinrückzug gemacht hatte und
jetzt, ihre Taktik ändernd, anſtatt lange herumzuſchwär-
men, ſich auf Juliettens Hand niederließ und ſie der-
maßen ſtach, daß ſie laut aufſchrie. Herr Raymond
war außer ſich, ſie ſo blaß und leidend zu ſehen, er
ergriff ihre ſchon angeſchwollene Hand, und führte ſie,
nachdem er ſich vergeblich bemüht, den Stachel heraus-

zuziehen, ohne eine beſtimmte Abſicht und durch eine

faſt unwillkührliche Bewegung an ſeine Lippen. In
dieſem Augenblicke fand Madame Deschamps, die von

ihrem Obſervatorium aus der eben beſchriebemen Scene

mit zufriedenem Auge zugeſehen hatte, daß die jungen
Leute in ihrer Vertraͤulichkeit doch zu ſchnelle Fort⸗—
ſchritte machten, und daß die Ehre ihres Hauſes ge-
fährdet ſei. Sie verdoppelte nun ihre Aufmerkſam-
keit und fixirte ihre Lorgnette wie ein Aſtronom ſein
Fernrohr; aber das, was ſie für einen der zärtlichſten
Küſſe gehalten, war ohne alle weitere bemerkenswerthe
Folgen. Emil begleitete Juliette einige Schritte, dann
verließ dieſe allein den Garten und kam auf den Sa-

lon zu: Ah! ſo iſt es recht, ſagte ſie vollkommen be-

ruhigt und eilte, ſo ſchnell ſie konnte, hinab. ö
Acht bis zehn Tage nach dieſem Ereigniſſe ſchrieb
die gute Dame folgenden Brief:
„Liebe Madame Firmin, meine Geſchäfte haben mich
noch nicht zu dem Vergnügen kommen laſſen, Ihre, im
Vorbeigehen geſagt, unfrankirten Briefe zu beantwor-
 
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