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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 87 - Nr. 95 (1. November - 29. November)
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berger

Nr. 92.

Samſtag, den 18. November 1871.

4. Jahrg.

Erſcheint Mittwoch und Samſtag. Preis monatlich 12 kr. Einzelne Nummer à 2 kr. Man abonnirt in der Druckerei, Schiffgaſſe 4
— und ber den Trägern. Auswärts bei den Landboten und Poſtanſtalten.

Aus der Geſellſchaft.
„Von Elariſſa Lohde.
(Schluß.)

„Sie ſprechen da eben indirekt eine harte Anklage
gegen meinen Bruder aus,“ ſagte die Baronin ernſt,
„und laſſen Sie mich hinzuſetzen, eine ungerechte!“
„Excellenz,“ entgegnete Frau Reuter blaß und er-
regt, „erlaſſen Sie mir, mich näher über die Verhält-
niſſe auszuſprechen, die mich zu dem Austritt aus Ih-
res Herrn Bruders Haus nöthigten. Es kann nie meine
Abſicht ſein, deu Bruder der Schweſter gegenüber an-
zuklagen.“ ö
„Wenn aber nun die Schweſter die Vertheidigung
des Bruders übernehmen wollte, übernehmen könnte,“
fragte die Baronin.
Frau Reuter athmete tief auf, dann ſagte ſie leiſe
und abwehrend: „Bitte, Excellenz, ſprechen wir nicht
weiter über dieſe Angelegenheit, die Unterhaltung könnte
für uns Beide nur ſchmerzlich werden.“
„Die Baronin ſchwieg einen Augenblick, dann ergriff
ſie die Hand der jungen Frau und ſagte, ihr forſchend
in's Auge blickend:
„Che ich darüber ſchweige, erlauben Sie mir noch
eine Frage zu thun. Hat keine Stimme in Ihrem
Herzen, ſeitdem Sie meinen Bruder verließen, für den
ſelben geſprochen? Antworten Sie mir, ich bitte Sie
herzlich darum, ohne Scheu und offen, als wäre ich
nicht Bandelow's Schweſter.“
Frau Reuter war verwirrt, Röthe und Bläſſe wech-
ſelten auf ihrem Geſicht; — ſie konnte lange keine Ant-
wort finden, augenſcheinlich rang ſie nach Faſſung.
„Warum fragen Sie mich, Excellenz?“ ſagte ſie
endlich mit erzwungener Ruhe, „warum wecken Sie von
Neuem Stürme in mir auf, die ich lange zur Ruhe ge-
bracht wähnte? Und was kann die Beantwartung die-
ſer Frage für einen Werth für Sie haben?“
„Den Werth,“ erwiederte die Baronin, „das An-
denken meines Bruders in Ihrem Herzen zu reinigen,
da unglückſelige Verhältniſſe einen unwürdigen Ver-
dacht in Ihnen erweckt haben. Doch dazu habe ich nur
dann Hoffnung, wenn ich ſehe, daß Sie nach Verlauf
eines Jahres dazu geneigt ſind, milder und nachſichti-
ger über ſein ſcheinbares Vergehen zu urtheilen.“

„Nun denn,“ ſagte Frau Reuter mit niedergeſchla-
genen Augen, ſo erfahren Sie die volle Wahrheit: Mein
Herz hat ſtets für Ihren Bruder geſprochen, der Ver-
ſtand aber auf mein Geheiß dieſe Gefühle niederkäm-
pfen müſſen, um mich zum Handeln frei zu machen.
Und nun, ſagte ſie aufſtehend, mit ſchmerzlichem Tone
der Stimme, „nun wiſſen Sie Alles, ſchoͤnen Sie mich,
Excellenz.“
Die Baronin war auch aufgeſtanden und ihren Arm
um Frau Reuter ſchlingend, zog ſie dieſe innig an ihr
Herz. ö
„Nun grade, liebſte Frau, müſſen Sie mich anhö⸗-ͤ
ren,“ ſagte ſie herzlich und zog die halb Widerſtrebende
zu ſich auf's Sopha, „jetzt müſſen Sie hören, welch'
grauſames Mißverſtändniß zwei für einander geſchaf-
fene Herzen ſo lange getrennt hat.“ ö
Sie zog Frau Reuter zu ſich auf einen Divan und
erzählte ihr Alles, was ſeit ihrer plötzlichen Abreiſe
aus Wilmershagen geſchehen, von der unüberwindlichen
Liebe Bandelow's für ſie, die er der Schweſter offen
geſtanden, von ſeinem heißen Wunſche, wenigſtens ſein
Andenken in den Augen der Geliebten von jedem Flecken
zu reinigen, die ſcheinbar auf demſelben ruhten. Sie
erzählte weiter, wie er ohne Aufhören nach Frau Reu-
ter geforſcht und geſucht, wie ſie, die Schweſter, aus
Theilnahme den Bruder begleitet habe, wie aber in Ita-
lien jede Spur verſchwunden geweſen ſei, wahrſchein-
lich weil Frau Reuter dort den Namen gewechſelt habe.
Dieſe Vermuthung hätte ſie endlich auch gehegt und
deshalb geglaubt, Frau Reuter habe ſich wieder ver-
heirathet. Sie erzählte, wie ſie den Bruder darauf
hin gebeten, ſich zu einer andern Wahl zu entſchließen,
wie aber Alles vergeblich geweſen ſei, wie er nun end-
lich ſeine Geliebte ſo unerwartet geſtern in der gefeier-
ten Sängerin wieder erkannt und wie da von Neuem
Freude und Oualen des Zweifels ſeine Seele durchtobt
hätten.
Frau Reuter hörte in höchſter Erregung zu. Thrä-
nen quollen aus ihren Augen und benetzten die Hand
der liebevollen, gütigen Frau, die hergekommen war,
um ihr, der Undankbaren, die die Wohlthaten ganz
vergeſſen zu haben ſchien, das langenthehrte Glück zu
bringen, das Glück einer wahren, edlen Liebe. Sie
drückte die Hände der edlen Frau wiederholt an ihre
Lippen; aber kein Wort konnte den Sturm ihres Her-
zens erleichtern; die Baronin verſtand ihre Erregung,
ſie drückte einen Kuß auf ihre Stirn und ſtand auf.

Langſam ſchritt ſie zum Fenſter, unten ſtand ihre Equi-
 
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