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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

DOI Kapitel:
Nr. 70 - Nr. 78 (2. September - 30. September)
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brauchte Gewalt? O, dann hat ſie die Vergehungen

der Anherren an den Urenkeln ſchrecklich gerächt! —
Gott, welch ein herzzerreißendes Bild bot in dieſem
Augenblicke Lübeck mir da; wie durchſchnitten die noch
ganz friſchen Spuren gemißbrauchter Gewalt mein In-
nerſtes! — Noch war Alles in furchtbarer Betäubung

erſtarret; der friedliche Bewohner glaubte noch, den

Donner des zerſchmetternden Geſchützes, noch das mord-
gierige Blei um ſein Haupt ziſchen zu hören, noch die
bluttriefenden Bayonnette zu erblicken, noch unter den
Haufen der zerſtümmelten, zerfleiſchten Leichen zu wan-
deln, noch das Röcheln der Sterbenden und das Jam-
mergeſchrei der Verwundeten zu vernehmen, noch un-
glückliche Hausväter, wehrloſe Greiſe in dem Kreiſe
ihrer Familien in ihrem Blute hinſtürzen zu ſehen, ein
Opfer der Menſchenwuth, gegen welche Tigerwuth nicht
reicht. — Ach! und die bedauernswerthen zarten Schlacht-
opfer, welche jetzt in der Stille das gemordete Glück
eines ſchuldloſen, unbefleckten Lebens beweinen...
Hier entſinkt der Schleier meiner bebenden Hand!
Der Name des Mannes, der dieſe Gräuel gewalt-
ſam in die friedliche Stadt führte .... er kann nur
mit Verwünſchungen von den Lippen der Unglücklichen
beben. Ob die Ehre des Kriegers dieſe Verwünſchun-
gen von Tauſenden übertäubt, und ob die Ehre gebot,
bei der augenſcheinlichen Unmöglichkeit der Selbſtret-
tung ein freundſchaftliches aber wehrloſes Gebiet zu
verletzen, um nicht die Gränzen des mächtigeren, be-
wehrtern Nachbarn zu übertreten, . . .. das mag das
Herz des furchtbaren Mannes entſcheiden, und — die
alles rächende, unerbittliche Nemeſis. — O, wäret ihr
nicht mehr geweſen, ihr wehrloſen Wälle, ihr tiefen
Gräben, ihr eitel trotzenden Thore; hätten an euerer
Statt mäandriſche Gänge von Lindenbäumen und ſchlan-
ken Pappeln den Bürger in ihre Schatten gelockt, nie
hätte die Furie des Krieges den Wohlſtand derer zer-
trümmert, die ihr nicht zu ſchützen, nur zu verderben

vermochtet!
(Fortſetzung folgt.)

Ein vernichtetes Kaiſerſchloß.
Von Ludwig Pietſch.
— ö (Schluß.)
In den Beſitz der herrſchenden Linie Frankreich's
ging St. Cloud erſt 1784 über, wo Philipp von Or-
leans, der ſpätere Philipp Egalite, Schloß nnd Park

für 6 Millionen Franls an Marie Antoinette ver-
Sie iſt nicht lange ihres, ganz nach ihren ei-

Sommerſitzes
ſtand er virödet. Der erſte Konſul brachte ihm ſeinen
Glanz und ſeine geſchichtliche Bedeutung wieder —
nachdem er die Nolksvertretung durch die Kolben ſei-
ner Grenadiere aus Apollo⸗Saal und Orangerie gefegt
hatte. Das Schloß blieb ſeine Lieblings⸗Reſidenz; hier

kaufte.
genſten Hrlichen Liebhabereien eingerichteten, neuen
6es froh geblieben! Während der Revolution

empfing er am 18. März 1804 die Votſchaft des Se-
nates, welche ihm den Kaiſertitel brachte; hier beging
er am 1. April 1810 die Civiltrauung mit ſeiner zwei-

ten Gemahlin Marie Louiſe von Oeſtreich; und eine
lange Reihe glänzender Feſte in Schloß und Park feier-
ten dieſes und das folgende größere Ereigniß, der
Taufe des dieſer Ehe entſtammten Königs von Rom.
— Wenige Jahre ſpäter und Blücher hatte ſein Haupt-
quartier in denſelben Räumen aufgeſchlagen, deren
alten Erinnerungen und gegenwärtigem Glanze er gleich
wenig Reſpekt bewieſen zu haben ſcheint.
Die Bourbons der Reſtaurationsepoche bekundeten
für St. Eloud keine geringere Vorliebe, als der Kai-
ſer ſie bewieſen hatte. Karl X. jagte gern in den um-
gebenden Wäldern und im Schloß — unterzeichnete er
die Ordonnanzen am 26. Juli 1830, welche ihm und
ſeinem Geſchlecht die Krone von Frankreich koſten ſoll-
ten. Von hier wandte er, und einen Tag ſpäter auch
der Dauphin, ſich zur Flucht aus dem Lande ſeiner
Väter und räumte Thron und Schloß dem ungetreuen
Vetter von Orleans, dem Bürgerkönig, der ſomit wie-
der in das Erbe ſeines Vaters einzog, welches dieſer
für Millionen an Marie Antoinette verkauft hatte.
Und auch ihn erreichte das gewohnte Schickſal fran-
zöſiſcher Herrſcher. Der Prinz Präſident Louis Napo-
leon zog ſtatt ſeiner dort ein und gründliche Umarbei-
tungen, Reſtaurationen und Verſchönerungen machten
bald St. Cloud zu einem der ſchönſten und glänzend⸗—
ſten Herrſcherfitze Frankreichs. Noch einmal wurde es
zum Schauplatz wichtiger Staatsactionen, rauſchender
Feſte. Noch einmal wurde, wie dem Onkel, in derſel-
ben Apollogallerie einem Napoleoniden von einem ähn-
lich ſervilen Senat die Kaiſerkrone dargeboten am 7.
November 1852; und dann wieder vier Jahre ſpäter
der ſpauiſchen Gemahlin der heilige Lohn ihrer katho⸗—
liſchen Tugend und Frömmigkeit die geweihte Roſe des
Papſtes, vom Kardinal-Legaten Patrizzi überreicht.
Hier empfing der Kaiſer 1855 die Nachricht vom Fall
Sebaſtopols, 1859 die Glückwünſche des Senats und
des geſetzgebenden Körpers für den glorreich ausge-
fochtenen italieniſchen Krieg. Das Jahr des Glanzes

1867 ſah hohe Gäſte in dieſen Mauern, 1869 einen

kranken Mann, von deſſen größeren oder geringeren
Blaſenſchmerzen das Glück und die Ruhe Europa's, das
Steigen und Fallen aller Werthe abzuhängen ſchien.
Und nun! — —
Grauenvoll waren die Bilder der Zerſtörung, welche
mir Park und Schloß zeigten, als ich nach mehrwöchent-
licher Abweſenheit im Spätherbſt 1870 wieder durch
das Gitterthor ſeines Bezirks und durch die Paliſſa-
denöffnungen ſeiner Verhaue in die engere „Granaten-
ſphäre“ eingegangen war, in welcher die liebſten ritter-
lichen Freunde vom 58. und 47. Regiment ihr aben-
teuerliches Vorpoſtenleben in gänzlich bombenunſichern
Verhältniſſen führten. Wie an Alles, gewöhnt. ſich der
Menſch, auch der nichtuniformirte, ſchließlich auch an
dieſe, und ſelbſt das Grauenvolle und die ſtete herein-
drohende Todesgefahr wird eine Quelle verwegener
Luſt und übermüthigen, doppelt vollisegebensgenuſſes.
 
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