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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 26 - Nr. 34 (1. April - 29. April)
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ner Guizot zum Miniſterpräſidenten ernannt worden

war. Anſangs ſchien Thiers ſich ganz vom öffentlichen.

Leben zurückziehen zu wollen, und unternahm Reiſeu
nach Deutſchland und Italien, um Materialien zu ſei-
ner Geſchichte des Konſulats und des Kaiſerreichs zu
ſammeln, welche eine Fortſetzung ſeiner Revolutionsge-
ſchichte bildete. In formeller Beziehung iſt dieſes Ge-
ſchichtswerk noch vorzüglicher als das frühere, aber die
Vorzüge deſſelben ſind eben rein äußerliche. Es ſpricht
aus ihm eine ſpezielle Vorliebe für den kriegeriſchen
Ruhm Napoleon's, zu deſſen Verherrlichung er die
blendendſten Farben ſeiner Darſtellungskunſt verwandte.
Nach ſeiner Rückkehr zum öffentlichen Leben ſtellte
er ſich wieder an die Spitze der Oppoſition, deren eigent-
licher Leiter er war, obgleich er nicht öffentlich hervor-
trat und die Regierung in wichtigen Fällen ſogar un⸗—
terſtützte. Gegen das nach dem Tode des Herzogs von
Oricans vorgelegte Regentſchaftsgeſetz erklärte ſich Thiers,
indem er für eine Regentſchaft der Herzogin von Or⸗—
leaus entſchieden eintrat. Seine Oppoſition beruhte
weſentlich in der Nebenbuhlerſchaft gegen den als
Staatsmann, Schriftſteller und Redner gleich hoch be-
gabten Guizot, der indeß einen weit ſchmiegſameren
und unſelbſtſtändigeren Eharakter beſaß, als Thiers,
und daher den politiſchen Anſchauungen und Pläneu
des Königs beſſer ſich zu bequemen wußte. Grade die

Selbſtſtändigkeit in den politiſchen Anſchauungen, welche

einen Charakterzug von Thiers ausmacht, eutfremdete

ihn dem Könige, der gern ſelbſt Politik machte und da-

her die ſeinem Miniſter geltenden Angriffe als gegen
ſeine Perſon gerichtet anſah. Er konnte ſich daher
nicht entſchließen, Thierxs wieder in ſein Miniſterium
zu berufen, als bis es zu ſpät war. Thiers Oppoſi-
tion war indeß in der That niemals gegen die Juli-
Monarchie gerichtet, ſondern gegen den Doktrinaris-—
mue Guizot's, der auf eine Mehrheit nur von den
Privilegirten der Kammler geſtützt, die Stimmung der
Nation verachten zu können glaubte. Hätte Louis Phi-
lipp s verſtanden, den beweglichen Staatsmann, der
ſo viel zur Erhebang ſeines Hauſes beigetragen, dauernd
an ſich zu feſſein, oder wenigſtens, wie er es in der
erſten Zeit ſeiner Regierung that, Thiers und Guizot
abwechſelnd zur Regierung zu berufen; Thiers, der,
durchaus eine franzöſiſche Natur, für die Vorzüge und
Voru theile feiner Landsleute ein lebhaftes Gefühl be-
ſaß, wurde es wahricheinlich verſtanden haben, den

Thron der Orleans vor den Stürmen des Jahres

1848 zu bewahren. Den Geſchichtsſchreiber der Re-
volution mochte der Februar Sturm nicht weniger über-
raſchen, als das Miniſterium, den König ſelbſt. Gleich-
wohl wird man nicht im Abrede ſtellen können, wenn
man die parlamentariſche Wirkſamkeit Thiers in der
letzten Periode der Juli⸗Monarchie verfolgt, daß er
vielleicht nicht weniger, wenn auch unabſichtlich, zum
Sturze derſelben beigetragen hat, als ſeine viel radi-
kaleren Kolegen in der Deputirten-Kammer: Ledru
Rollin, Lamartine, Odilon-Barrot. Als der Sturm
endlich hereingebrochen war, ſuchte Louis Philipp ihn

redete: „Das iſt Ihr Zweck, mein Herr!

zu beſchwören, ſodann durch die Berufung von Thiers,
die aber in einem Augenblicke erfolgte, als die Stun-
den der Monarchie bereits gezählt waren, und daher
der durch ſeine Regreſſivmaßregeln deim Volke wenig
beliebte Name des Urhebers des September⸗Geſetzes
keine Sympathien mehr erwecken konnte. In den ent-
ſcheidenden Augenblicken, wo vielleicht noch die Regent-
ſchaft der Herzogin von Orleans gerettet werden konnte,
und Odilon-Barrot unter dem Beifall der Majorität
der Kammer das Wort ergriff, war Thiers verſchwun-

den, ein Beweis, daß der ehrgeizige Provencale die

Sache der Orleaus ſchon als verloren betrachtete. Viel
beſſer als alle Diejenigen, welche vor⸗ und nachher
Thiers als den entſchiedenen und ergebenen Anhänger
der Orleans betrachteten, denen er zum Throne ver-
holfen und deren Verwaltung er zu verſchiedenen Zei-
ten geleitet hatte, durchſchaute ihn Königin Amalie,
welche, obgleich ſie ſich ſonſt nie, wie ihre Schwägerin

Adelaide, um Politik gekümmert, nachdem Louis Phi-
lipp die Abdankuugs-Urkunde unterzeichnet hatte, den

in der Nähe befindlichen Thiers mit den Worten an-
Sie haben
es ſo weit gebracht! Sie verdienten nicht, einen ſo
guten König zu haben!“ In der That, man würde
ſehr irren, wenn man bei Thiers eine hlinde Anhäng-
lichkeit für die Orleans vorausſetzen wollte, wie ſie
etwa Ehateaubriand für die ältere Linieé der Bourbons

empfſand, oder heute noch bei Guizot für die Nachkom-

men Louis Philipp's vorhanden iſt. Die Sache der
Orleans war für ihn nur ein Mittel zum Zweck, als
welchen er die Gründung einer Regierung in Frank⸗-
reich betrachtete, welche die Geſellſchaft vor den Aus-
ſchweifungen der Republikaner und Sozialiſten, aber
auch zugleich vor den durch die Zeit überholten Tra-
ditionen der legitimen Monarchie, die ſelbſtverſtändlich
ſeinem Ehrgeiz keine Befriedigung verſchaffen konnte,
bewohren ſollte. In dieſem Sinne iſt auch die Rolle
aufzufaſſen, die er nach ſeinem Eintritte in die Natio-
nal⸗Verſammlung, als einer der Führer („Burggra-
fen“) der ſogenannten Ordnungspartei ſpielte. ö
Mit Entſchiedenheit trat er den Ausſchreitungen
der ſozialiſtiſchen Partei entgegen, aber nicht weniger
bekämpfte er das Beſtreben der Bonepartiſten, denen
er bekanntlich durch ſeine Geſchichte des Konſulats und
Kaiſerreichs, und durch ſeine Wiedererweckung der na-
poleoniſchen Erinnerungen ſehr weſentlich vorgearbei
tet hatte. Nach der Erwählung Louis Napoleon's zum
Präſidenten der Republik, ſah er ein, daß die Repu-
blik nicht mehr zu retten war und arbeitete daher ganz
offen auf die Wiedereinſetzung des Hauſes Orleans
hin, da er wohl hoffen konnte, unter dem jungen Gra-

fen von Paris eine maßgebende Rolle zu ſpielen.

(Schluß folgt.)
 
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