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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 52 - Nr. 60 (1. Juli - 29. Juli)
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ſam, und als nach einigen Zuckungen des lange zuruck-

gehaltenen öffentlichen Lebens während der erſten ſie-
ben Jahre der Regierung Friedrich Wilhelm's IV., die

Märzrevolution das alte patriarchaliſche Preußen um-

ſtürzte und an ſeine Stelle den Staat der Neuzeit,
des verfaſſungsmäßigen Rechtes ſetzte, da zeigte ſich,
daß in den ſeit dem Kriege verfloſſenen fünfunddrei-
ßig Jahren, ein Geſchlecht von hoher Bildung und ſitt-
licher Tüchtigkeit herangewachſen war. Noch iſt der
Kampf der Parteien zu wenig ausgeglichen, als daß
ſchon Jedermann, wie es heute in England der Fall iſt,
der Revolution und unſerm erſten Parlament volle Ge-
rechtigkeit widerfahren ließe, aber wie die Revolution
nöthig geweſen war, um das ſtockende Leben des Staa-
tes aufzurütteln, ſo war beſonders in der preußiſchen
National-Verſammlung, und auch im Frankfurter Par-
lament eine Schaar von Männern, welche, wenn ſie
im Einzelnen oft genug geirrt haben mögen, durch
Bildung, durch hohen Muth der Ueberzeugung, durch
eine Selbſtaufopferung ohne Grenzen und durch eine
fleckenloſe Charakterreinheit unſerem politiſchen Leben
eine ſolide Grundlage und eine fruchtbrre Richtung ge-
geben haben. Die preußiſche Nationalverſammlung
hatte ein vorzeitiges Ende, das Kraftvolle ihres Geiſtes
fand ſich noch einmal wieder in den Jahren des Kon-
flikts, wo harte Steine aufeinander rieben, und wenn
Bismark in der Hauptſache ſiegreich hervorging, weil
er ſchlietzlich mit der Verwirklichung des nationalen
Gedankens Ernſt machte, ſo hatten doch auch die Be-
ſiegten, die ſelbſt als die Hoffnung auf Sieg verſchwun-
den war, muthig auf ihrem Poſten ausharrten und
ein Beiſpiel der größten Standhaftigkeit gaben, Anſpruch
auf Hochachtung und Dauk.

Es giebt freilich niemals eine Zeit und hat niemals
eine ſolche gegeben, in welcher nicht Vieles beſſer ſein
könnte, als es iſt, und ſo iſt ja auch in dem letzten
Jahrzehnt oſt genug Grund zu Klagen vorhanden ge-
weſen, aber in dem ſortwährenden Wechſel menſchlicher
Dinge iſt es auch, dem ſchärſſteu Auge nicht immer
möglich zu erkennen, welche Veränderungen vor ſich ge-
hen, und als nun an Preußen die erſte Probe geſtellt
„wurde, ſo zeigte ſich, daß aus allen mitwirkenden Fak-
loren, welche man zuerſt vom Parteiſtandpunkte als
gut oder übel anzuſehen gewöhnt war, ein Volk und
Staat von höchſter Geſundheit und Kraft hervorgegan-
gen war.

„Auf dieſer feſten, breiten Grundlage baute die mu-
thige Eutſchloſſenheit des greiſen Königs, unterſtützt von
einem Staatsmann und Diplomaten, der zu der kleinen
Zahl von Staatsmännern erſten Ranges für alle Zei-
ten gethört, dem Fürſten Bismark, einem faſt eben ſo
genialen Strategen, dem Grafen Moltke, einem Admi-
niſtrator von großer Umſicht und Erfahrung, dem Gra-
fen Rdon und einer Anzahl heldenmüthiger Genuerale,

an deren Spitze wiederum zwei Prinzen des königlichen
Hauſes, der Eiue davon der Kronprinz des deutſchen

Reiches und Preußens, ſtehen, das ſtolze Gebäude der

Einheit und Größe Deutſchlands auf, wie es die Pa-

faſt gänzlich verſchwunden.

trioten ſeit Jahrhunderten wohl manchmal geträumt,
aber kaum je zu hoffen gewagt hatten.
Allerdings mußten dazu eine Reihe Bedingungen
eintreten, in deren Zuſammentreffen der fromme Glaube
die Hand der Vorſehung zu ſehen liebt, welche man
nicht weniger verehrt, wenn man in ihnen trotz alles.
anſcheinend Zufälligen doch die nothwendige Folge von
Vorausſetzungen erkennt, deren Verkettung wir nur des-
halb nicht vollſtändig verfolgen können, weil dem menſch-
lichen Geiſte die Ausfülluug des ſcheinbaren Widerſpruchs
zwiſchen Zufall und Nothwendigkeit, Freiheit und Ge-
ſetz eben ſo verſagt iſt, wie zwiſchen Raum und Unend-
lichkeit, Zeit und Ewigkeit. ö
Zwei Mal binnen zwei Jahren hatte Preußen ſein
Schwert ſiegreich erprobt und es dann in die Scheide

geſtoßen, mit dem feſten Entſchluß, es nicht unnöthig

zu ziehen. In dem Gefühle ſeiner Kraft konnte es
nachgiebig und langmüthig ſein, aber die Franzoſen
mißverſtanden dieſe Geduld und eine elende, volksverx-

derbliche Preſſe hetzte, wenn die Regierung zu ermat-
ten ſchien, in der frevelhafteſten Weiſe zum Kriege

durch die ſchamloſeſten Beleidigungen unſers edlen und
keinem andern auf Erden nachſtehenben Volkes.
Wer die Geſchichte dieſes Krieges ſchreiben will, der
muß an die Spitze die Worte Emile de Grradin's
ſetzen, welcher in ſeinem Organe kurz vor dem Ausdruch
des Krieges ſagte, wenn die Deutſchen zu feige wären,

den angebotenen Krieg anzunehmen, ſo würden ſie mit

Kolbenſtößen in den Rücken über den Rhein geworfen

werden.

Dieſe ſchamloſe Herausforderrng einem Volke zuge-

ſchleudert, deſſen Kriegsruhm zweitauſend Jahre alt iſt

und das aus Mangel an Tapferkeit niemals, ſondern
nur aus Mangel an Einigkeit zuweilen beſiegt wurde,
war ein Zeichen jenes Wahnſinns, welcher nach der

Meinung der Alten Goit übex Diejenigen verhangt,

die er perderben will. Je wüſter das Gedahren Frank-
reichs wurde, um ſo kühler war die preußiſche Regie-
rung, und ſchon vor Ausbruch des Krieges errang ſie

jeden Tag moraliſche Siege, den größten aber, lange

vorbereiteten, als Graf Bismaͤrck mit jenen akten-
mäßigen Enthüllungen hervortrat, welche der ſchwach-
köpfige Benedetti in ſeinen Händen gelaſſen. Einen
Augenblick lang war Europa ſtarr por Exſtauuen, ſelbſt
die franzöſiſche Frechheit wagte kaum eine Entſchuldi-
gung zu ſtammeln, bald aber ermaunnte man ſich: das
Blut, das ſtromweis fließen ſollte, würde ja auch den
Makel der Lüge don den ſiegreichen Franzoſen hinweg-
gewaſchen haben. ͤ
Dieſe Fehler ſind der deutſchen Sache von unſchätz-
barem Werthe geweſen. Selbſt in dem preußiſchen
Volke, welches am ſchwerſten durch den erſten Napo-
leon gelitten hatte, war der Haß gegen die Franzoſen

(Sortſetzung folgt.)
 
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