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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 61 - Nr. 69 (2. August - 30. August)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44617#0247

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verſetzen mit den Worten: „Thut Buße, Kinder, und
betet zu Gott für die Unglücklichen.“ Er legte ein
Stück Baumrinde auf die Stute, holte aus, theilte mit
einem Hieb das Srück Rinde in zwei auseinauderfal-
lende Hälften, und damit war die Schuldigkeit des
Henkers gethan. * ö
Auf der Stelle wurde das ſo unerwartet verlobte
Paar zur Trauung geführt. Daria hob während der
ganzen Zeit dle Augen nicht in die Höhe, und ſah we-
der ihren Verlobten, noch ihren Mann an. Sie ſchien

noch nicht recht zu faſſen, was mit ihr vorging; Te-

renti ſah ſie an, lächelte und ſchwieg. Das Bolk lärmte
freudig ſtrömte dem ungewöhnlichen Paare nach und
geleitete daſſelbe erſt zur Kirche und dann von der
Kirche, wenn auch nicht bis nach Hauſe, ſo doch wenig-
ſtens bis an's Stadtthor. Von Mehreren wurde ihnen
Geld zugeworfen, Terenti aber zog den Hut, dankte

freundlich ablehnend, und gab das Geld den Bettlern.

Ein fremder Kaufmann ließ ſich von dem allgemeinen
Jubel ſo weit hinreißen, daß er dem Volk einen Schmaus
bereitete, indem er Alle mit Bretzeln traktirte, und
dabei rief er Hurrah bis zur Heiſerkeit und Er-
ſchöpfung.. ö
Terenti, der im eigenen Wagen zur Stadt gekom-
men war, verließ in demſelben mit ſeiner jungen Frau
die Stadt. Sie hob noch immer die Augen nicht em-
por und ſprach kein Wort zu ihm. Als ſie endͤlich im
ſreien Felde waren, hielt er das Pferd an und ſagte:
„Nun Dariechen, gib mir die Hand. Nicht wahr, wir
wollen mit einander leben?“ Sie ſank ihm zu Füßen,
umfaßte ſeine Knie, und jeßt erſt, nach langer uner-
träglicher Pein, brach ſie in Thränen aus.
Terenti hob ſie mit Gewalt auf. ö
— Das Alte muß vergeſſen ſein, ſagte er, wir fan-
gen ein neues Leben an, wie wenn wir erſt heute mit
einander zur Welt gekommen wären. . ... Aber wo
fahren wir, nun hin, Dariechen? Nach Hauſe kann ich
nicht; od mich meine Eltern jetzt annehmen, weiß Gott;
in Jahr und Tag werden ſie ſich wohk erbitten laſſen,
aber jeßt kann ich nicht zu ihnen. Fahren wir nach
Deinem Dorfe zu Deinen Eltern; geht das?
— Warum nicht! ſagte Daria, ſeſt und muthig ih-
rem Manne in's Geſicht blickend. In Gottes Namen
laß uns hinfahren.
Den Emqpfang von Seiten des Schwiegervaters und
der Schwiegermutter kann man ſich ſchwer vorſtellen.
Sie ſaßen daheim im Dorfe in tiefſter Betrübniß, wohl
wiſſend, was jetzt in der Stadt geſchah. Plötzlich fährt
ein Wagen in den Hof. Sie blicken auf, ſehen hin
und trauen ihren Augen nicht. . .. Ein junger Mann
im Tuchrock, mit ſeidenem Gürtel und Caſtorhut, bringt
nach dem unglücklichen, mit Schande bedeckten Hauſe
der alten Leute ein junges Weib .. .. und dieſes
Weib iſt — ihre Tochter!
ö Lange konnten die Alten keine Faſſung gewinnen,
kein Wort hervorbringen, obwohl die Tochter ſchon zu
ihren Füßen lag, und der junge Mann, nach tiefer
Verbeugung, grüßend daſtand und ſie um ihren Se-

ſie Terenti zu Füßen, der in ſeiner Verzweiflung die

ſich verſammelnden Leute zu Hülfe nehmen mußte,
um die Alten empor zu richten und ſie auf die Bank
zu ſetzen. — ö
Terenti's Eltern ließen ihn zwei Jahre nicht vor
die Augen. Er aber griff inzwiſchen zum Pflug und
arbeitete beim Schwiegervater; auch Daria machte ſich
in früherer Weiſe an die Arbeit und es ging ihr treff-
lich von Statten. Endlich als Terentis Vater erkrankte
und ſich dem Tode nahe glaubte, wünſchte er mit ſei-
nem Sohne und ſeiner Schwiegertochter ſich auszuſöh-
nen. Es wurde nach ihnen geſchickt, und kaum hatten
die Alten Daria geſehen und ſie einigermaßen kennen
gelernt, als ſie ſie lieb gewannen und ſich nicht mehr
von ihr trennen wollten. Daria ſoll aber eine ſo mu⸗—
ſterhafte Frau und Tochter geweſen ſein, daß ſie noch
jetzt, wo dieſe Begebenheit ſich nur als dunkle alte
Sage erhalten hat, in jenen Gegenden allen Frauen
und Bräuten als Vorbild hingeſtellt wird.

Mannichfaltiges.

Das Schulterblatt eines Hammels wird
in Schottland „ein armer Mann“ genannt. Ein alter
ſchottiſcher Pair, deſſen Eigenthümlichkeit ſich in einer
auffallenden und übertriebenen Kundgebung des hoch-
ländiſchen Charakters zeigte, wurde während der Par-
lamentsſitzungen in London von einer Unpäßlichkeit be-
fallen. Der Wirth des Gaſthofes, in welchem er wohnte,

zählte ihm bei einem Beſuche den ganzen Inhalt ſei-

ner wohlverſehenen Speiſekammer auf, in der Hoffnung
auf etwas zu treffen, das ſeine Eßluſt reizen könne.
Ich glaube, Herr Wirth, ſagte Se. Herrlichkeit, ſich
auf dem Bette erhebend und, indem er ſeinen ſchotti-
ſchen Mantel zurückſchlug, ſein ſchreckliches und wildes
Geſicht zeigend — ich glaube, ich könnte ein Stück
von einem armen Manne eſſen. Der Gaſtwirth
floh voll Schrecken davon und zweifelte nicht, daß ſein
Gaſt ein Menſchenfreſſer ſein müſſe, der einen Schnitt

von einem Unterthanen als leichte Koſt auizuſpeiſen
pflege, wenn er auf Krankenkoſt angewieſen ſei.

Sedan, der durch den 2. September 1870 zu hi-
ſtoriſcher Berühmtheit gelangte Ort, war im 17. Jahr-
hundert nur ſeiner dort fabrizirten Spitzen wegen all-
gemeiner bekannt. Obwohl alle in den Ardennen ge-
fertigten Spitzen in hohem Anſehen ſtanden, ſo doch be-
ſonders die Sedan-Paints, die nach einigen Rechnun-
gen zu ſchließen, z. B. nach der über die Garderobe
Karl's des Erſten, die u. A. auch ſechs Kolleretteu
aus Sedan-Points aufführt, ſehr theuer waren. Die
Elle dieſer Spitzen koſtete bis zu fünſzig Livres. Dieſe
einträgliche Induſtrie, die beſonders in England, Hol-
land und Polen ihren Abſatz fand, überlebte indeſſen

nicht die Schrecken der Revolution. ö
 
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