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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 1 - Nr. 9 (2. Januar - 30. Januar)
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heidelberger Fani

Velletriſtiſche Veilage zur Heidelberger Zeitung.


—*9 — *
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jenblätter.
*
6

97˙

„ d.
C. .;


Ar. 1.

Samstag, den 2. Januar

1886.

— —

Der Bauerndoktor.
Novelle von Helene Naumburg.

Nachdruck verboten. Geſetz v. 11. Juni 1870.

„Habt ihr jemals etwas von dem rothen Dieter ge-
hört?“ fragte einer der Freunde, die nach langjähriger
Trennung wieder einmal beim perlenden Rheinwein ſaßen
und alte Univerſitätserinnerungen auffriſchten.
Die Frage wurde von allen verneint; niemand wußte
etwas von dem rothen Dieter; doch war mit dieſem nicht
etwa der luſtige Spitzbube aus Hebels Schatzkäſtlein ge-
meint, deſſen perſönlicher Bekanntſchaft ſich keiner von uns
rühmen konnte, ſondern Dietrich von Beroldſtein, dem wir,
ſeines röthlichen Schnurrbarts wegen, dieſen Namen bei-
gelegt hatten. Vielleicht thaten wir es, um zu beweiſen,
daß wir uns von ihm, dem an Jahren und geiſtiger Kraft
Ueberlegenen, nicht imponiren ließen, denn daß er uns allen
überlegen ſei, geſtand ich mir wenigſtens im Stillen ein.
Ich hing an ihm mit der ſchwärmeriſchen Freundſchaft
eines neunzehnjährigen Jünglings und war ſtolz darauf,
daß der über ſeine perſönlichen Verhältniſſe wenig Mittheil-
ſame eine Ausnahme mit mir machte. So erfuhr ich, daß,
er aus einer alten ganz verarmten Adelsfamilie ſtamme,
nur unter dem Druck ſchwerer Enthehrungen habe ſtudiren
können, daß er aber trotzdem den akademiſchen Lehrberuf
im Auge habe, wenn ihn auch die Verhältniſſe noch
nöthigten, eine Aſſiſtentenſtelle bei einem berühmten
Chirurgen anzunehmen.
Auch nachdem ich die Univerſität verlaſſen hatte, blieb
ich noch eine Zeit lang in brieflichem Verkehr mit ihm.
Nur wunderte es mich, daß der Ton ſeiner Briefe immer
ernſter wurde, während er ſchneller als man erwarten
konnte, einen ehrenvollen Ruf an eine norddeutſche Uni-
verſität erhalten hatte. Dann blieb lange jede Nachricht
von ihm aus, und als ich endlich wieder einmal an ihn
ſchrieb, bekam ich meinen Brief mit der Bemerkung von
der Poſtbehörde zurück, daß der derzeitige Aufenthaltsort
des Adreſſaten unbekannt ſei. Seitdem hörte ich nichts
mehr von ihm, außer widerſprechenden Gerüchten, welche
bald behaupteten, er ſei in den ruſſiſchen Staatsdienſt ge-
treten, bald ihn als nach Amerika ausgewandert bezeich-
neten. Allmälig entſchwand ſein Bild aus meinen Ge-
danken, bis jene Frage des alten Studiengenoſſen es mir
neu vor die Seele rief.
ö So lebhaft als ſei es erſt geweſen, ſah ich ihn vor
mir an jenem Morgen, als er mich bat, eine entfernte Ver-
wandte ſeiner Mutter von der Bahn zu holen und in den
Gaſthof zu geleiten, eine Ritterpflicht, die zu erfüllen er
verhindert war. ö
So ſtolz mich dieſer Beweis ſeines Zutrauens machte,
ſo ſteigerte ſich meine jugendliche Befangenheit noch durch
den Umſtand, daß die Dame eine Reichsgräfin war, und
ich in meinem ſchlichtbürgerlichen, kaufmänniſchen Vater-
hauſe noch in keinerlei Verkehr mit dem hohen Adel ge-
tommen war. Aber auf des rothen Dieters Wunſch hätte
ich nöthigenfalls auch die Kaiſerin von China am Bahnhof
empfangen, und die Sache erwies ſich ſehr viel leichter,

als ich gedacht hatte. Die große, ſchlanke Frau ſah in
ihrer einfachen, dunklen Kleidung weit eher wie eine as-
ketiſche Nonne, denn eine vornehme Dame aus, die ich mir
nicht ohne einen gewiſſen Pomp zu denken vermochte. Sie
dankte mit großer Freundlichkeit für den geringen Dienſt,
den ich ihr leiſten durfte, und hätte mir ſofort meine Un—⸗
befangenheit wieder gegeben, wäre ich nicht ganz geblendet
von der Schönheit ihrer ungefähr ſiebzehnjährigen Tochter
geweſen. Sie glich der Mutter an ſchlanker Geſtalt, Zarten
Farben und hellem Haar, hatte aber den ganzen Liebreiz
und die Fröhlichkeit der Jugend, während die Züge der
Gräfin den Stempel körperlicher Leiden oder einer tief-
ſchmerzlichen Reſignation trugen.
Daß ich der blonden Komteſſe während ihres Aufent-
halts nicht wie ein Schatten folgte, und keinen Verſuch
machte, ihr meine unbegrenzte Bewunderung an den Tag
zu legen, rechnete ich mir ſelbſt als nicht geringes Verdienſt
an; aber jeder Verſuch es zu thun, wäre mir wie ein
Verrath an dem Freunde erſchienen. Denn wenn Dietrich
mir auch nichts von ſeiner Leidenſchaft für das junge
Mädchen geſagt, war ich doch davon überzeugt. Ich brannte
vor Neugier, mehr über die Damen zu erfahren; doch er-
wies ſich der Freund bei dieſer Gelegenheit ſchweigſamer
als ſonſt, und wehrte den erſten Verſuch, ihn zu necken,
ſo nachdrücklich ab, daß ich keinen zweiten wagte. Die

ältere Dame, ſagte er, ſei wegen einer ärztlichen Berathung

hergekommen, doch wäre leider wenig Hoffnung für ſie,
die Tochter dürfe das natürlich nicht wiſſen. Das war
alles, und wenn es mir auch bei der Kleinheit des Orts
gelang, die Damen noch ein paarmal von weitem zu ſehen,
ſo währte ihr Aufenthalt nur kurze Zeit, und wenige Wochen
darauf verließ auch ich das Städtchen.
Darüber waren wohl fünfzehn Jahre vergangen.
In meiner Eigenſchaft als Rechtsanwalt war ich von
einem großen Bankinſtitut beauftragt worden, mich ein-
gehend mit den Verhältniſſen eines Fabrikunternehmens zu
beſchäftigen, das in den öſtlichen Ausläufern der öſter-
reichiſchen Alpen lag. Die Angelegenheit hatte ſich in er-
wünſchter Weiſe und ſchneller erledigt, als ich erwartete;
das Wetter war ſchön, und ich beſchloß daher einen Ab-
ſtecher nach dem durch ſeine Kunſtſchätze und Sammlungen
alter Manuſcripte hochberühmten Kloſter S. zu machen.
Seitdem ich das Unglück gehabt hatte, meine Frau zu ver-
lieren, widmete ich alle Zeit, die mir mein Beruf ließ,
meiner Kunſtliebhaberei, und die Gelegenheit, jene Samm-
lungen zu ſehen, war gar zu verlockend. Zu meiner Ent-
täuſchung erfuhr ich, daß die Eiſenbahnverbindung dorthin
eine ſehr ungünſtige ſei, daß ich mehrere Stunden unter-
wegs Aufenthalt habe. Der Gaſtwirth rieth deßhalb, im
Wagen quer durch das Land zu fahren, die ungemein lieb-
liche Gegend lohne die fünfſtündige Fahrt. Der Vorſchlag
klang annehmbar, und bald ſaß ich im Einſpänner, der
mich über die Berge bringen ſollte.
Der Wirth hatte nicht zu viel von der Gegend be-
hauptet; denn nachdem wir den Gipfel einer bewaldeten

Anhöhe erreicht hatten, breitete ſich eine ungemein anmuthige

Landſchaft vor mir aus. Die Berge trugen theils Buchen-
 
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