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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 44 - Nr. 52 (2. Juni - 30. Juni)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Ur. 50. Mittwoch,

den 23. Juni

1886.

Zun Lindwurn.
Roman von B. Renz.
(Fortſetzung.)
XVI.
Faſt ein Jahr war verfloſſen ſeit jenem Abend, der die
Tochter den ergreifenden Einblick thun ließ in das Leben
der Mutter, in der Verſtorbenen Luſt und Leid. Niemand
erfuhr etwas von dem Fund des Buches, denn Frau Chriſtel
war verſchwiegen und ihrer jungen Herrin ganz ergeben,
und dem Vater ſagte Billa ſchon aus dem Grunde nichts,
um die beſſere Stimmung, die ſich mehr und mehr zu be-
feſtigen ſchien, nicht wieder zu gefährden. Sie blieb ihrem
Verſprechen treu, jeden direkten Verkehr mit dem zu meiden,
den ſie über alles liebte, aber ſie war unausſprechlich glück-
lich, wenn ſie von ihm hörte; und die Bröckchen, die ihr
Chriſtel zutrug, oder die ihr aus dem Munde des alten
verſtändigen Juſtizraths zufielen, hob ſie auf wie Gold-
körner, um noch lange davon zu zehren.
Gleichwohl trug ſie die Spuren tiefen Harmes auch
äußerlich an ſich. Sie war nicht mehr das fröhliche,
blühende Mädchen wie einſt; ſie that zwar ihre Pflicht in

Haus und Hof wie immer, aber ſie war ſtill geworden und

eine gewiſſe Bläſſe und Nervoſität machte ſich allmälig und
in einem Grade bemerkbar, daß Herr Carſtens einen Arzt
konſultirte und, dem Rathe deſſelben folgend, mit der Tochter
während des Sommers zunächſt Hamburg und ſpäter ein
Seebad beſucht hatte und erſt gegen die Mitte des Sep-
tembers nach Reicha zurückgekehrt war. Eine unheimliche
Sorge um das Kind hatte ſich ſeiner bemächtigt, er behan-
delte ſie mit einer faſt ängſtlichen Rückſicht, ſuchte jeden
ihrer Wünſche zu errathen und war glücklich, wenn er ein
Lächeln des Dankes entgegennehmen durfte. Er hatte auch,
um ſie zu zerſtreuen, ſofort nach der Rückkehr in den
Gertraudenhof den Umgang bekannter Familien wieder auf-
geſucht und Billa und Tante Roſe dort eingeführt, er
trachtete durch ſchöne Literatur, Muſik und Blumen dem
Kinde das Leben im einſamen Hauſe möglichſt angenehm
zu machen, und ſo war ihm denn auch keine Zeit geblieben,
in ſeine alte verbiſſene Stimmung zurückzufallen.
Lieutenant v. Fliſſen endlich, die Gefühle des geliebten
Mädchens ehrend, mied jede ſelbſt ſcheinbare Annäherung,
und wenn die Verſtimmung bei ihm gar zu groß wurde,
die Ungeduld ſich zu ſtürmiſch meldete, ſo war der Troſt
und Zuſpruch des Juſtizraths bei der Hand, deſſen Haus
er gar zu häufig beſuchte, und der ihn ſtets wieder mit

dem Hinweis auf die große Veränderung in der Sinnesart

des Herrn Carſtens beruhigte; oder Frau Grieben erzählte
ihm von Billa, oder ließ, das Beſte von allem, ganz zu-
fällig Frau Chriſtel erſcheinen, worauf dem jungen Manne
eine Weile das Herz wieder leichter wurde. Später hatte
ihn das große Manöver auf Wochen aus ſeiner Garniſon
entfernt und. nun war plötzlich der Herbſt da und trat früh-
zeitiger als gewöhnlich mit Sturm und Regen, mit grauem
Himmel und kahlen Bäumen ſeine Herrſchaft an.
So war die Mitte des October herangekommen, ein
heftiger Südweſt peitſchte den Regen gegen die Fenſter

und drehte kreiſchend die Windfahnen, und wer nicht ge-
zwungen war, das ſchützende Heim zu verlaſſen, wäre ge-
wiß nicht auf die Straße gegangen.
Der Herr Juſtizrath Neſemann ſaß an dieſem Abend
in ſeiner gemüthlich erwärmten Studierſtube; obwohl es
ſchon auf acht Uhr ging, ſchrieb er noch eifrig und nur
dann und wann, wenn ein beſonders heftiger Windſtoß die
Fenſterladen erbeben ließ, horchte er auf, um gleich darauf
wieder in der Arbeit fortzufahren. Es mußte eine wichtige
Sache ſein, die ihn beſchäftigte, denn ſonſt war es die Ge-
wohnheit des Hauſes, um ſieben Uhr das Abendbrod ein-
zunehmen; und die Frau Juſtizrath hatte auch ſchon einige-
male verſtohlen ins Zimmer geſchaut, ſich aber immer gleich
wieder zurückgezogen, denn ſtören durfte ſie ihren Mann
nicht, das war Geſetz.
Jetzt aber hatte er den letzten Punkt gemacht und ſeinen
Namen mit einem hübſchen Schnörkel unter die Arbeit ge-
ſetzt, und ſah mit dem Wohlbehagen, welches uns immer
beſchleicht, wenn ein ſchwieriges Werk vollendet und ge-
lungen iſt, das Ganze nochmals durch, als das Haus-
mädchen leiſe die Thür öffnete und ins Zimmer trat.
„Nun, was iſt's, Rieke, — ſoll ich zu Tiſche kommen?“
„O nein, Herr Juſtizrath,“ ſagte das Mädchen halb-
laut, „draußen iſt ein fremder Herr, der abſolut zu Ihnen
will. Ich wollte ihn abweiſen, denn die Schreiber ſind
ſchon lange fort, aber er geht nicht.“ — ö
„Wer iſt's denn?“ unterbrach der alte Herr die Mel-
dung ärgerlich.
„Das habe ich auch gefragt, Herr Juſtizrath,“ recht-
fertigte ſich das Mädchen, „aber er will ſeinen Namen
nicht nennen; er ſagt, er wäre ein alter Bekannter von
Ihnen und er müſſe Sie auf jeden Fall ſprechen; — er
ſieht ſo merkwürdig aus.“
„So? Merkwürdig? Na, dann laß ihn herein, aber
ſage meiner Frau, mit dem Eſſen wäre es noch nichts.
Herr Gott, iſt das ein Wetter,“ ſetzte er leiſe hinzu, als
das Mädchen gegangen war. „Wer mag da Luſt haben,
Beſuche zu machen!“ ö
Der Fremde hatte unterdeß im Vorzimmer den naſſen
Ueberzieher abgelegt und trat nun, den feuchten Cylinder
in der Hand, in die Stube, während das Mädchen ihm
neugierig einen Moment nachſchaute.
Es war ein großer Mann von vornehmer Haltung,
der ſich jetzt dem Juſtizrath näherte, aber ſein Aeußeres
bot allerdings, wie Rieke gleich herausgefunden hatte, etwas
Merkwürdiges, nicht ſowohl die feine Kleidung von aus-
ländiſchem Schnitt, als vielmehr das mächtige Haupthaar
und der ſtarke Vollbart, beide vom reinſten Weiß, aus
denen ein faſt bronzefarbenes Geſicht mit einem Paar

dunkler freundlicher Augen hervorblickte.

„Sie kennen mich nicht mehr, Herr Juſtizrath,“ ſagte
er mit angenehmer Stimme, die einen fremden Accent hatte,
„kalkulire, daß es zwanzig Jahre ſind, ſeit wir uns nicht

ſahen; aber thut nichts — mir iſt's noch wie geſtern.“

„Mein Gott!“ rief der Juſtizrath, indem er die Brille
auf dit Stirn ſchob und den grünen Schirm der Lampe
entfernte. ö
 
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