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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 88 - Nr. 95 (3. November - 27. November)
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elberger Fanilienblätter.

Belletriſtiſche Veilage zur Heidelberger Zeitung.

Ur. 92.

Mittwoch, den 17. November

1886.

Die Grafen von Hartenegg.
Roman von Hermine Wald emar.
(Fortſetzung.)

ö XIII. ö
Nachdem Doktor Ranke ſeine Wohnung verlaſſen hatte,

ſtürmte er in aller Eile durch die Straßen; es erfüllte ihn-

nur der Gedanke an möglichſt baldige Aufklärung dieſes
unſeligen Geheimniſſes. Die Möglichkeit, daß Haber ſelbſt
ſchlecht unterrichtet geweſen ſei, erfüllte ihn mit unausſprech-
licher Hoffnung, belebte ſein armes Herz von Neuem. Un-
aufhaltſam durchlief er die Straßen, er empfand keine
Müdigkeit, trotzdem daß er ſchon lange unterwegs und
Mitternacht vorüber war; auch den feinen Regen, der her-
niederrieſelte, ſchien er kaum zu bemerken, obwohl derſelbe
bereits ſeine Kleider durchweicht hatte und er bis auf die
Haut durchnäßt war.
woſelbſt durch mangelhafte Einrichtungen oder ſchadhafte
Rinnen das Waſſer in Strömen von den Dächern ſich er-
goß, erſt da wurde er aufmerkſam; er ſchlug den Rock-
kragen auf, zog den Hut tiefer in die Stirne und beſchleu-
nigte noch ſeinen raſchen Schritt: das einzige Mittel, um
ſich möglichſt gegen den Regen zu ſchützen.
Erleichtert athmete er auf, als er endlich in die be-
wußte Straße einbog, welche ihm in der trübſeligen Be-
leuchtung und unter dem ſtrömenden Regen noch bedeutend
düſterer und unangenehmer erſchien als ſonſt. Er mußte
ſeinen Weg durch den aufgeweichten Boden und die großen
Pfützen bis zu des alten Habers Haus förmlich durchwaten.
Er klopfte an dem kleinen Fenſter, ſo wie er ſich ſonſt an-
zumelden pflegte — aber heute erfolgte keine Antwort.
Er klopfte noch einmal, zugleich probirte er die Thüre,
deren Schloß dem Drucke ſeiner Hand nachgab und auf-
ſprang. Kopfſchüttelnd über dieſes merkwürdige Vorkomm-
niß trat Ranke ein und fand ſeinen Weg unbeanſtandet
bis in das Schlafzimmer. Alles war todtenſtill — nichts
regte ſich. — Haſtig trat der junge Arzt zum Bett, —

prallte aber entſetzt zurück, denn Haber lag mit weit offen-

ſtehenden, glaſigen Augen auf ſeinem Lager — das Leben
war entflohen. — Ranke ſchien im erſten Moment zu er-
ſtarren, dann machte er eilig die nöthigen Unterſuchungen,
aber vergebens! Der Körper war noch warm — das
Herz aber ſchlug nicht mehr. ö ö
„ Todt, todt, ohne daß ich Weiteres erfahren habe,“
murmelte er. „Ha, das Schickſal ſpielt tückiſch mit mir.
Und Du, alter Mann,“ wendete er ſich gegen den Todten,
„möge Dir Gott verzeihen, was Du an mir geſündigt, ich
kann es nicht! Der Stein, den Du Dir durch Dein Be-
kenntniß von Deinem Herzen gewälzt, derſelbe Stein wird
mit ſeiner Wucht mich erdrücken, — ich muß der Laſt er-
liegen!“ Muthlos ließ er ſich auf einen Stuhl fallen.
„Was nun? Wie ſoll ich die Spur jener Frau finden?“
Nach einer Weile ſprang er entſchloſſen auf. „Ich muß
nach dem Bahnhof, damit ich den erſten Zug benützen kann,
morgen muß ich in K. Nachforſchungen anſtellen.“

Aber ſeiner Geduld ſtand noch eine harte Prüfung be-

Erſt als er in die Vorſtadt eintrat,

vor, denn der erſte Zug fuhr erſt in zwei Stunden, ſo
lange mußte er ſich im Warteſaal aufhalten.
Zwei Stunden! Sie dünkten ihm eine Ewigkeit. Wer
hat nicht ſchon alle die Qualen durchgekoſtet, welche ein
ſolches Warten hervorbringt? Wer wüßte nicht, mit wel-
cher vermeintlichen Trägheit die Zeiger der Uhr ſich vor-
wärts bewegen, wenn man ſie ſtets beobachtet?
So erging es Ranke im ſchlimmſten Maße. Ungeduldig
wanderte er in dem weiten Raume auf und nieder; un-
zählige Mal blieb er vor dem großen Fahrplan ſtehen und
ſtudirte die kleine Route — aber die Abfahrtsſtunde blieb
ſtets die gleiche, er glaubte, ſie nicht erleben zu können.
Und doch fliegt die Zeit, auch für ihn ſchlug die Erlöſungs-
ſtunde. Der ſchläfrige, alte Portier ſchlürfte geräuſchvoll
durch das Zimmer, drehte die Gasflammen etwas höher
und wendete ſich mit ſeinem: „Wo reiſen der Herr hin?“
an Ranke. ö ö
„Nach K.“ rief ihm dieſer entgegen, „wird denn der
verwünſchte Zug bald abfahren?“
„In zehn Minuten, Herr,“ erwiderte der Portier mür-
riſch und ſchlürfte ebenſo geräuſchvoll wieder zur Thüre
hinaus. Ranke ſtand am Fenſter und ließ ſeine Augen
über den Perron ſchweifen, während er ungeduldig mit den
Fingern auf den Scheiben trommelte, als hinter ihm Schritte,
feſte, energiſche Schritte hörbar wurden. Er wendete ſich
um und eilte mit einem freudigen Ausrufe auf den ein-
getretenen Herrn zu. —
„Du kommſt mir wie gerufen, Julius,“ rief Ranke,
„daß ich aber auch bis jetzt nicht an Dich dachte.“
Der Ankömmling, ein hochgewachſener, kräftiger junger
Mann mit blondem Bart und ausdrucksvollen dunklen
Augen drückle dem jungen Arzt überraſcht die Hand. Es
war Rankes Vetter, der junge Förſter Julius Fahrbach.
„Kann ich Dir mit etwas dienlich ſein, Hermann?“ rief
er aus.
„Ja, Du kannſt es,
nach K. 2“ ö
„Gewiß, ich habe den Wald zu inſpiziren
„Um ſo beſſer, dann fahren wir die kurze Strecke zu-
ſammen. Du ſiehſt mich in einer ſchrecklichen Aufregung,
in einer grenzenloſen Verzweiflung. Dir will ich alles
mittheilen, da wir wie Brüder zuſammen aufgewachſen ſind,
— ſonſt vermochte ich noch gegen Niemand davon zu re-
den. Um Dir die Sache verſtändlich zu machen, muß ich
weit ausholen.“ Er erzählte nun dem geſpannt Lauſchen-
den die ganze Angelegenheit, wie Haber ſie bekannt hatte.
Mitleidig ruhten Fahrbachs Blicke auf dem jungen Doktor.
„Ich kann mit Dir fühlen, Hermann, ich kann ver-
ſtehen, wie es Dir zu Muthe ſein muß, aber ich ſage Dir,
laß den Muth nicht ſinken, ſuche jene Frau oder deren
Nachkommen auf, vielleicht findeſt Du doch einen Anhalts-
punkt, der Dir Berechtigung gibt, an den Ausſagen Habers
zu zweifeln.“
„Du ſelbſt ſcheinſt wenig Hoffnung zu hegen, daß ich
Erfolg haben könne?“
„Was ſoll ich es Dir verhehlen, Hermann? Die An-
gaben des Alten lauten ſo beſtimmt, im Ganzen ſo zu-

aber ſage mir, fährſt Du auch
 
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