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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 88 - Nr. 95 (3. November - 27. November)
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hridelberger ganilienbläkter.

Belletriſiiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Ir. 89.

Samstag, den 6. November

Die Grafen non Hartenegg.
Roman von Hermine Wald emar.
(Fortſetzung.)

Entſetzt ſchaute Ranke den Alten an. „Was reden
Sie da für Unſinn? Ich bin ja gar nicht hier geboren.“
„So, das meinen Sie, das hat man Ihnen geſagt, es

iſt aber nicht wahr! — Hören Sie mich ruhig an, Herr

Doktor, Sie werden ſehen, daß ich recht habe.
„Es mögen jetzt achtundzwanzig Jahre her ſein, da er-
ſchien an einem kalten, ſtürmiſchen Novemberabend eine
Frau mit einem kleinen Bündel hier in meiner Stube.
Es war eine entfernte Verwandte von mir, welche ſich als
Wittwe mit ihrer Tochter mühſelig von ihrer Hände Arbeit
ernährte; das Mädchen, ein bildhübſches, ſauberes Ding,

hatte eine Liebſchaft mit einem vornehmen Studenten, der

ſie, wie er ſagte, auch heirathen wollte. Wie das ſo geht,
das Mädchen vergaß ſich und bald waren die Folgen be-
merkbar. Der feurige Liebhaber reiſte nach Hauſe, um die
Einwilligung ſeines Vaters zu holen, wurde aber von
dieſem verſtoßen und wanderte nach Amerika aus. — Eine
Zeitlang grämte ſich das Mädchen; nachdem das Kind, ein
Sohn, geboren war, vergaß ſie bald den abweſenden Ge-
liebten. Die Mutter nahm ihr nach wenigen Tagen ſchon

das Kind weg unter dem Vorwande, daß es krank ſei, und

nach abermals einigen Tagen brachte ſie der trauernden
Tochter die Nachricht von dem Tode des Kindes. Das
war aber alles nicht wahr. Die Frau, welche ſich ſonſt
um den beſcheidenen Haber nie gekümmert, fand jetzt den

Weg zu ihm, um ſeinen Rath zu erbetteln. Um die Tochter

bewarb ſich ein reicher, wenn auch alter Baron, dem die
Sache verheimlicht werden ſollte, deßhalb kam ſie, um zu
hören, wo das Kind unterzubringen ſei. Sie hatte den
armen Wurm bei ſich, gar nicht bedenkend oder vielleicht
hoffend, daß er den Tod davon haben könnte. Bis dahin
war ich nicht betheiligt an dem Betruge. Das Unglück
aber wollte, daß ich am nämlichen Nachmittage Geſchäfte
halber in dem benachbarten Städtchen K. war und auch
bei dieſer Gelegenheit einen Freund beſuchte. Als ich dort
eintrat, fand ich die Leute in großer Aufregung um eine
große, dicke Frau verſammelt, welche auf einem Stuhle ſaß
und herzbrechend ſchluchzte. Auf mein Befragen erzählten
ſie mir, daß die Kathrin, eben dieſe dicke Frau, welche

Wärterin bei einer feinen Dame war, deren Kind ſie zu

ſich ins Bett genommen und es im Schlafen erſtickt habe.
Nun hatte ſie natürlich Furcht vor der Strafe; glücklicher-
weiſe war die Dame, welche ſie bediente, ſo elend, daß
das Kind ganz in der Obhut der Wärterin blieb. — Die-

ſem Umſtande ſchreibe ich es auch zu, daß die Sache ſo

lange unentdeckt blieb. — Nun meine Verwandte mich um
Beiſtand angegangen, fiel mir die ganze Geſchichte wieder
ein: ich hieß ſie mitſammt dem Kinde in einen Wagen

ſteigen, den ich in aller Eile geholt hatte, und fuhr ſo
raſch wie die Pferde laufen konnten, nach dem Städtchen,

wo ich auch bald die Wärterin auskundſchaftete. Es war

gerade Zeit, denn länger wie bis zum nächſten Morgen

Sie ſo uneigennützig behandelte?“

hätte ſie das Unglück nicht verbergen können. Und nun
geſchah die Frevelthat, wir legten das Kind meiner Ver-
wandten an die Stelle des verſtorbenen und die Wärterin
gab es für das ächte aus. Die Täuſchung konnte nicht
ſo leicht bemerkt werden, da erſtens die junge Mutter zu
krank war, um ſich viel um das Kind zu kümmern, und
zweitens ſich die Säuglinge in dem zarten Alter von knapp
acht Tagen alle ähnlich ſehen. Der Betrug iſt gelungen;
der untergeſchobene Knabe wuchs heran als ſeiner Eltern
einziges Kind, — er ſteht vor mir.“ Der alte Mann
ſchwieg und heftete forſchend ſeine Augen auf des jungen
Mannes entſetztes, geängſtigtes Geſicht. Ranke athmete

tief und ſchwer, aus ſeinem Antlitze war jeder Blutstropfen

gewichen. ö
„O Gott, dieſe Schmach!“ ſtöhnte er laut. „Wann,
ſagten Sie,“ frug er mühſam, „wann haben Sie das
Bubenſtück ausgeführt?“ ö ö ö ö
„Es war im November vor achtundzwanzig Jahren.“
„Ja, es ſtimmt, im nächſten Monat werde ich neun-
undzwanzig.“
Ranke ſchlug die Hände vor das Geſicht. „Wie ſoll
ich dieſe Schmach ertragen? Mich dünkt, als trüge ich

jetzt das Zeichen an der Stirné.“

„Laſſen Sie ſich nicht ſo niederdrücken, werther Herr,“
begann der alte Haber wieder, „es weiß ja Niemand außer
Ihnen und mir, die andern ſind todt und ich werde auch
bald ſterben.“
„Nein, es weiß Niemand davon,“ entgegnete Ranke
tonlos, „Niemand, aber ich weiß es und ha, das iſt gerade
genug, um mich für ewig niederzuſchmettern? Warum
haben Sie nicht geſchwiegen und Ihr unſeliges Geheimniß
mit in's Grab genommen? Iſt das der Dank, daß ich
Erregt durchmaß er
das kleine Zimmer.
„Warum?“ frug Haber, „weil Ihnen von Rechtswegen
das Majorat gehört.“ ö ö
„Majorat, welches Majorat?“ fuhr Ranke los und
blieb vor dem Bette ſtehen. „Nun, ſprechen Sie es un-
gehindert aus; habe ich das eine gehört, ohne den Ver-
ſtand zu verlieren, kann ich auch noch vernehmen, wer mein
ſauberer Vater iſt. Heraus damit, wenn ich nicht glauben

ſoll, Sie haben mich belogen, wer war der Verführer des

jungen Mädchens?“
„Graf Wilhelm von Hartenegg.“
„Wer? Wer ſagten Sie?“ rief der junge Arzt, indem
er einige Schritte zurücktaumelte. „Ein Graf Wilhelm
von Hartenegg wanderte nach Amerika aus?“ ö
Wer kann für die Gedanken, welche ſich im Hirn jagen?
Mit einemmal ſtand ihm Harding, der Amerikaner, klar
und deutlich im Gedächtniß, mit einemmale wurde es ihm
klar, an wen deſſen Augen ihn erinnerten. Aufſtöhnend
ließ der junge Mann ſich auf einen Stuhl niederfallen.
„Auch das noch! O Jeſſy, Du biſt mir verloren, auf
ewig verloren!“ Er raffte ſich auf, griff mechaniſch nach
ſeinem Hut und eilte hinaus. Er mußte allein ſein mit
ſeiner Verzweiflung, ſeinem Jammer, raſtlos lief er weiter.
Wie ſollte er ſich Gewißheit verſchaffen? und doch, er mußte
 
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