ridelberger ganilienblilttr.
„ Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
Mittwoch, den 2. Juni
1886.
Zun Lindwurn.
Roman von B. Renz.
(Fortſetzung.)
XI.
Der Umzug in den Gertraudenhof war vollendet; glück-
licherweiſe noch bei trockener Witterung, denn heute fiel un-
aufhörlich ein naßkalter feiner Nebel und Herr Carſtens
gratulirte ſich, die Sache ſo energiſch betrieben zu haben.
Im Lindwurm befanden ſich nur noch die Utenſilien
und Möbel der Geſchäftsräume und der Wohnung des
Küfers, der Lehrlinge und eines älteren Mädchens, welches
für die Verpflegung des Perſonals zu ſorgen hatte; ſpäter
ſollte dies alles meiſtbietend verkauft werden.
Heute morgen nun gegen zehn Uhr begab ſich Herr
Carſtens vom Gertraudenhof nach dem Lindwurm, genau
wie er es einſt zur Blüthezeit ſeines jungen Glückes gethan
hatte, ehe er als Wittwer in die Stadt zog. Die Erin-
nerung an damals drängte ſich ihm unwiderſtehlich auf; er
gedachte der Freude, die er empfunden, wenn er dann nach
beendeter Arbeit wieder die Stadt im Rücken hatte und
ſein Weib ihm im Schatten der Kaſtanienallee entgegenkam,
um ihn in's trauliche Heim zu führen. Und jetzt wohnte
dort, in denſelben Räumen, wieder ein junges Weſen, und
wie täuſchend glich ſie der Mutter! Nur er war älter
geworden, älter und lebensmüder; und heute regnete es und
ſein Fuß ſtreifte unaufhörlich die naſſen gelben Blätter, die
der Sturm der letzten Nacht herabgewor fen hatte. — Da-
mals Sonnenſchein und blauer Himmel, heute Sturm, Re-
gen und Herbſtweh. Und dennoch, er fühlte heute mehr
als je das Glück, dies Kind zu beſitzen, die einzige ſeines
Namens, ſein Kind, das Kind ſeiner Anna. Und die ſollte
ein Fliſſen heimführen? Nimmermehr!
Geſtern Nachmittag war er aus dem ungemüthlichen
Treiben des Umzuges geflohen und in die Loge gegangen,
wie er früher faſt täglich gethan, und dort hatte ihn der
Juſtizrath Neſemann auf die Seite genommen und ihm den
Beſuch dieſes Menſchen, des Lieutenants von Fliſſen an-
gekündigt. „Er hat den Befehl von ſeinem Bataillons-
commandeur,“ hatte Neſemann geſagt, „du darfſt ihn alſo
nicht ſchlecht behandeln, denn wenn er dem Befehle nicht
nachkommt, wird er beſtraft. Fliſſens Schuld iſt es nicht,
er hatte ſich bereits vorgenommen, es auf's äußerſte an-
kommen zu laſſen, um dir nicht läſtig zu werden, aber die
angedrohte Verſetzung wäre eine zu ſtrenge Strafe, denn
er iſt mittellos und die Reſidenz ein theures Pflaſter.“
„Ja, hm —“ hatte er dann erwidert. Er erinnerte
ſich jedes Wortes des Geſpräches, und wie er hinzugefügt:
»die Verſetzung wäre ja ein Glück für alle, und wenn ich
dazu beitragen kann —“ Aber weiter war er nicht ge-
kommen, da hatte ihm ſein älteſter Freund beinah die
Freundſchaft gekündigt und geſagt: „Ich habe dich für
einen heißblütigen verbiſſenen Querkopf, aber bis jetzt noch
nicht für einen unedlen Menſchen gehalten; hüte dich, daß
es nicht dahin komm Erfahre ich, daß du dem jungen
verließ.
Herr Carſtens:
Mann in irgend einer Weiſe zu nahe trittſt wegen dieſes
Commandos, oder ihm ſchadeſt, ſo haſt du meine Achtung
verloren. Er kann nicht dafür, daß er den Namen „Fliſſen“
trägt.“ Damit war der Juſtizrath gegangen und hatte
ihn ſtehen laſſen, auch den ganzen Abend kein Wort mehr
mit ihm geſprochen. Und nun — konnte, durfte er den
älteſten Freund, den einzigen, der ſtets ſeine Partei er-
griffen, vor den Kopf ſtoßen um dieſes Menſchen halber?
War denn alles auf deſſen Seite, alles gegen ihn?
Verdrießlich ſtieß er die welken Blätter mit dem Fuße
vor ſich her und eilte raſcher dem Lindwurm zu. Hätte
er gewußt, daß geſtern Abend noch der Juſtizrath ſich zu
dem Lieutenant begeben und ihn geſagt hatte, er möge nur
ganz unbefangen ſein Anliegen dem Herrn Stadtrath vor-
tragen, dieſer werde ihm keinerlei Ungelegenheit bereiten,
er habe ihm ernſtlich zugeredet, — wer weiß, ob nicht der
Widerſpruch rege geworden und die Mahnung des Juſtiz-
rath vergeblich geweſen wäre. Aber er wußte es nicht,
und außerdem hatte Neſemann dem jungen Offizier beim
Weggehen noch geſagt: „Lieber Fliſſen, dieſe Mittheilung
bleibt ganz unter uns, nicht wahr?“
„Ja, unter uns!“ hatte da eine leiſe Stimme hinter
der Tapetenthür wiederholt. „Warte nur, mein Lieutenant
iſt mir zehnmal lieber, als dein alter Sünder. Ja, ſtille
Waſſer ſind tief!“ — Gewiß, Frau Wittwe Grieben war
eine kluge Dame, ſie erfuhr und wußte alles, wenn es
auch nicht immer mit rechten Dingen zuging. —
Verſtimmt, ſogar ſehr verſtimmt betrat Herr Carſtens
heute ſein Comptoir, warf den triefenden Regenſchirm in
eine Ecke und begann die eingegangene Correſpondenz durch-
zuſehen. Plötzlich ſtutzte er. „Meier!“ rief er in den
Flur, und als der Commis eilig erſchien, fuhr er fort:
„Da aviſiren Scherr und Comp. in Trier acht Ohm Zel-
tinger. Beſtellt haben wir den Wein Mitte September,
das iſt richtig, aber die Order iſt zurückgezogen worden,
ich hatte Ihnen den Auftrag dazu ertheilt; laſſen Sie das
Correſpondenzjournal ſehen.“
Der Commis zuckte die Achſeln. „Erinnere mich nicht,
Herr Stadtrath; wahrſcheinlich haben Sie ſelbſt die Ab-
beſtellung gemacht; das Copierbuch muß es zweifellos be-
ſtätigen.“ Aber weder im Journal noch im Copierbuche
fand ſich etwas anderes als der Auftrag an Scherr und
Comp., von Abbeſtellung keine Spur.
„S' iſt gut,“ brummte der alte Herr auf die Bemer-
kung des Commis, der nur zu gern das Comptoir wieder
„Acht Ohm! Soviel wird der Offiziertiſch nicht
kaufen, indeß — nehmen muß ich den Wein. Hätte ich
doch erſt das ganze Geſchäft hinter mir.“
Soweit war er gekommen, als ihm ein anderes, jeden-
falls nicht kaufmänniſches Schreiben in die Hand fiel mit
dem Poſtſtempel Reicha. Die Aufſchrift verrieth unzwei-
deutig eine Frauenhand, und mit gerechtem Erſtaunen las
ö Geehrter Herr!
Denken Sie wohl noch manchmal an die Nummer
zwölf in der Blumenſtraße 2 Und wie verhält ſich Ihr
Gewiſſen ? Seien Sie nur immer recht höflich
„ Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
Mittwoch, den 2. Juni
1886.
Zun Lindwurn.
Roman von B. Renz.
(Fortſetzung.)
XI.
Der Umzug in den Gertraudenhof war vollendet; glück-
licherweiſe noch bei trockener Witterung, denn heute fiel un-
aufhörlich ein naßkalter feiner Nebel und Herr Carſtens
gratulirte ſich, die Sache ſo energiſch betrieben zu haben.
Im Lindwurm befanden ſich nur noch die Utenſilien
und Möbel der Geſchäftsräume und der Wohnung des
Küfers, der Lehrlinge und eines älteren Mädchens, welches
für die Verpflegung des Perſonals zu ſorgen hatte; ſpäter
ſollte dies alles meiſtbietend verkauft werden.
Heute morgen nun gegen zehn Uhr begab ſich Herr
Carſtens vom Gertraudenhof nach dem Lindwurm, genau
wie er es einſt zur Blüthezeit ſeines jungen Glückes gethan
hatte, ehe er als Wittwer in die Stadt zog. Die Erin-
nerung an damals drängte ſich ihm unwiderſtehlich auf; er
gedachte der Freude, die er empfunden, wenn er dann nach
beendeter Arbeit wieder die Stadt im Rücken hatte und
ſein Weib ihm im Schatten der Kaſtanienallee entgegenkam,
um ihn in's trauliche Heim zu führen. Und jetzt wohnte
dort, in denſelben Räumen, wieder ein junges Weſen, und
wie täuſchend glich ſie der Mutter! Nur er war älter
geworden, älter und lebensmüder; und heute regnete es und
ſein Fuß ſtreifte unaufhörlich die naſſen gelben Blätter, die
der Sturm der letzten Nacht herabgewor fen hatte. — Da-
mals Sonnenſchein und blauer Himmel, heute Sturm, Re-
gen und Herbſtweh. Und dennoch, er fühlte heute mehr
als je das Glück, dies Kind zu beſitzen, die einzige ſeines
Namens, ſein Kind, das Kind ſeiner Anna. Und die ſollte
ein Fliſſen heimführen? Nimmermehr!
Geſtern Nachmittag war er aus dem ungemüthlichen
Treiben des Umzuges geflohen und in die Loge gegangen,
wie er früher faſt täglich gethan, und dort hatte ihn der
Juſtizrath Neſemann auf die Seite genommen und ihm den
Beſuch dieſes Menſchen, des Lieutenants von Fliſſen an-
gekündigt. „Er hat den Befehl von ſeinem Bataillons-
commandeur,“ hatte Neſemann geſagt, „du darfſt ihn alſo
nicht ſchlecht behandeln, denn wenn er dem Befehle nicht
nachkommt, wird er beſtraft. Fliſſens Schuld iſt es nicht,
er hatte ſich bereits vorgenommen, es auf's äußerſte an-
kommen zu laſſen, um dir nicht läſtig zu werden, aber die
angedrohte Verſetzung wäre eine zu ſtrenge Strafe, denn
er iſt mittellos und die Reſidenz ein theures Pflaſter.“
„Ja, hm —“ hatte er dann erwidert. Er erinnerte
ſich jedes Wortes des Geſpräches, und wie er hinzugefügt:
»die Verſetzung wäre ja ein Glück für alle, und wenn ich
dazu beitragen kann —“ Aber weiter war er nicht ge-
kommen, da hatte ihm ſein älteſter Freund beinah die
Freundſchaft gekündigt und geſagt: „Ich habe dich für
einen heißblütigen verbiſſenen Querkopf, aber bis jetzt noch
nicht für einen unedlen Menſchen gehalten; hüte dich, daß
es nicht dahin komm Erfahre ich, daß du dem jungen
verließ.
Herr Carſtens:
Mann in irgend einer Weiſe zu nahe trittſt wegen dieſes
Commandos, oder ihm ſchadeſt, ſo haſt du meine Achtung
verloren. Er kann nicht dafür, daß er den Namen „Fliſſen“
trägt.“ Damit war der Juſtizrath gegangen und hatte
ihn ſtehen laſſen, auch den ganzen Abend kein Wort mehr
mit ihm geſprochen. Und nun — konnte, durfte er den
älteſten Freund, den einzigen, der ſtets ſeine Partei er-
griffen, vor den Kopf ſtoßen um dieſes Menſchen halber?
War denn alles auf deſſen Seite, alles gegen ihn?
Verdrießlich ſtieß er die welken Blätter mit dem Fuße
vor ſich her und eilte raſcher dem Lindwurm zu. Hätte
er gewußt, daß geſtern Abend noch der Juſtizrath ſich zu
dem Lieutenant begeben und ihn geſagt hatte, er möge nur
ganz unbefangen ſein Anliegen dem Herrn Stadtrath vor-
tragen, dieſer werde ihm keinerlei Ungelegenheit bereiten,
er habe ihm ernſtlich zugeredet, — wer weiß, ob nicht der
Widerſpruch rege geworden und die Mahnung des Juſtiz-
rath vergeblich geweſen wäre. Aber er wußte es nicht,
und außerdem hatte Neſemann dem jungen Offizier beim
Weggehen noch geſagt: „Lieber Fliſſen, dieſe Mittheilung
bleibt ganz unter uns, nicht wahr?“
„Ja, unter uns!“ hatte da eine leiſe Stimme hinter
der Tapetenthür wiederholt. „Warte nur, mein Lieutenant
iſt mir zehnmal lieber, als dein alter Sünder. Ja, ſtille
Waſſer ſind tief!“ — Gewiß, Frau Wittwe Grieben war
eine kluge Dame, ſie erfuhr und wußte alles, wenn es
auch nicht immer mit rechten Dingen zuging. —
Verſtimmt, ſogar ſehr verſtimmt betrat Herr Carſtens
heute ſein Comptoir, warf den triefenden Regenſchirm in
eine Ecke und begann die eingegangene Correſpondenz durch-
zuſehen. Plötzlich ſtutzte er. „Meier!“ rief er in den
Flur, und als der Commis eilig erſchien, fuhr er fort:
„Da aviſiren Scherr und Comp. in Trier acht Ohm Zel-
tinger. Beſtellt haben wir den Wein Mitte September,
das iſt richtig, aber die Order iſt zurückgezogen worden,
ich hatte Ihnen den Auftrag dazu ertheilt; laſſen Sie das
Correſpondenzjournal ſehen.“
Der Commis zuckte die Achſeln. „Erinnere mich nicht,
Herr Stadtrath; wahrſcheinlich haben Sie ſelbſt die Ab-
beſtellung gemacht; das Copierbuch muß es zweifellos be-
ſtätigen.“ Aber weder im Journal noch im Copierbuche
fand ſich etwas anderes als der Auftrag an Scherr und
Comp., von Abbeſtellung keine Spur.
„S' iſt gut,“ brummte der alte Herr auf die Bemer-
kung des Commis, der nur zu gern das Comptoir wieder
„Acht Ohm! Soviel wird der Offiziertiſch nicht
kaufen, indeß — nehmen muß ich den Wein. Hätte ich
doch erſt das ganze Geſchäft hinter mir.“
Soweit war er gekommen, als ihm ein anderes, jeden-
falls nicht kaufmänniſches Schreiben in die Hand fiel mit
dem Poſtſtempel Reicha. Die Aufſchrift verrieth unzwei-
deutig eine Frauenhand, und mit gerechtem Erſtaunen las
ö Geehrter Herr!
Denken Sie wohl noch manchmal an die Nummer
zwölf in der Blumenſtraße 2 Und wie verhält ſich Ihr
Gewiſſen ? Seien Sie nur immer recht höflich