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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 79- Nr. 87 (2. Oktober - 30. Oktober)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſliſche Beilage zur Heidelberger Zeitung. ö

Ur. 84.

Mittwoch, den 20. October

1856.

Die Grafen von Hartenegg.

Roman von Hermine Waldemar.
Gortſetzung.)

Ranke verhehlte dem beſorgten Vater nicht, daß der
Zuſtand Jeſſys ein recht bedenklicher ſei. „Ich vermuthe,
Herr Harding, daß das Fräulein ein Nervenfieber wird
durchmachen müſſen, deßhalb möchte ich Ihnen rathen, eine
andere Wohnung zu ſuchen, da in dieſem großen Hotel die
Kranke ſchlecht aufgehoben iſt. Und jetzt iſt ſie noch trans-
portfähig, in zwei Tagen wird es kaum mehr auszuführen
ſein.“ Er half dem beſtürzten Vater eine Wohnung ſuchen
und ſorgte für eine zuverläſſige Wärterin, mit deren Hilfe
er das kranke Mädchen in das neue Quartier brachte.
Wochenlang lag Jeſſy in der größten Gefahr; getreu-
lich ſtand Ranke dem Amerikaner zur Seite und als er
ihm verkündigen konnte, daß ſie gerettet ſei, als der ent-
zückte Harding ihm um den Hals fiel, da war es ihm,
als ob er noch nie ſolch ſüßen Lohn für ſeine Mühe em-
pfangen.
er ſetzte ſeine ganze Wiſſenſchaft, all' ſein Können ein,

nicht nur, um ſie zu erhalten, ſondern auch, weil ihr ſüd-

liches Geſichtchen mit den tiefdunklen Augen und dem feinen,
Stumpfnäschen es ihm angethan hatte. Stundenlang konnte
er vor ihrem Bette ſitzen und ſie anſchauen, er wurde es
gar nicht müde. Erſt als die Gefahr vorüber war und
er keinen Grund mehr hatte, ſo oft bei Harding zu ver-
weilen, merkte er, was eigentlich mit ihm vorgegangen in
der letzten Zeit. ö
Als er einige Tage nach der eingetretenen Kriſis ſeinen
Beſuch machte, fand er das junge Mädchen zum erſtenmal
wach und bei klarem Bewußtſein. Harding, welcher an
ihrem Bett geſeſſen, erhob ſich eilig und mit freudig be-
wegtem Geſicht eilte er dem jungen Arzte entgegen.
— „Laſſen Sie mich Ihnen nochmals danken, verehrter
Freund, daß Sie mir mein Kind erhalten haben durch
Ihre Kunſt!“
Beſcheiden lehnte Ranke ab: „Ich that das Wenigſte
dazu, Herr Harding, des Fräuleins geſunde Natur war die
Haupturſache, daß wir ſo ſchnell und glücklich die Krankheit
überwunden haben.“ ö
„Sie wollen meinen Dank nicht, aber was wäre aus
uns geworden hier in der großen, fremden Stadt, wenn
Sie nicht ſo gütig geweſen wären!“ Mit dieſen Worten
drückte Harding dem Arzt in tiefer Bewegung die Hände.
Ranke antwortete nicht mehr, ſondern trat an das Bett
Jeſſys, welche ihm mit einer ſchwachen Bewegung und einem

reizenden, verlegenen Lächeln die abgemagerte Hand hin-

reichte. Mit wahrem Entzücken hing ſein heißer Blick an
dem lieblichen Geſicht, den dunklen, unſchuldsvollen Augen.
Ja, die Geneſung machte Fortſchritte, er konnte es mit
Freude beobachten; waren die Wangen auch noch recht

bleich und eingefallen, ſo funkelten die Augen doch wieder

in früherer Lebensluſt und Schelmerei. Ranke hatte ſich
ſo vertieft in den Anblick des jungen Mädchens, daß er

Mächtig hatte es ihn bisher zu Jeſſy hingezogen;

Du machſt ein merkwürdig verlegenes Geſicht.“

vollſtändig Zeit und Ort vergaß, bis Harding, welcher aus

ſeinem Schweigen wohl ein ungünſtiges Zeichen entnahm,‚,

ihn aus ſeinen Gedanken riß, indem er ängſtlich frug:
„Sie finden das Kind doch nicht ſchlimmer, Doctor??ꝰ?
Ohne ſeine Verlegenheit ganz bemeiſtern zu können,
erwiderte der Arzt: „O nein, Herr Harding, im Gegen-
theil, ich glaube, daß das Fräulein wohl in den nächſten
Tagen den Verſuch wagen darf, aufzuſtehen.“ ö
Noch einmal reichte ihm Jeſſy die Hand, während eine
leiſe Röthe ihre bleichen Wangen dunkler färbte, und ſie
verlegen vor ſeinem feurigen Blick die Augen niederſchlug.
„Lieber Papa,“ ſagte ſie mit ſchwacher Stimme, „wie
froh bin ich, daß ich nicht habe ſterben müſſen, das Leben
iſt doch ſo ſchön.“ ö
„Mein Liebling,“ rief Harding erſchreckt, „ſprich nicht
davon, der bloße Gedanke kann mich zur Verzweiflung

bringen.“ Zärtlich ſtrich er ihr das kurze Haar aus der

Stirn; ihr üppiges ſchwarzes Haar war der Scheere zum
Opfer gefallen; doch die kurzen Locken ſtanden gut zu dem
kindlichen Geſichtchen.
Ranke empfahl ſich, nachdem er verſprochen, daß er auch
fernerhin noch täglich ſie beſuche. Wie gerne kam er dieſem

Wunſche nach!

Langſam ſtieg er die Treppe hinab, ſeine Gedanken

weilten noch bei ſeiner lieblichen Kranken oben; als er

durch die Hausthüre auf das Trottoir trat, wäre er faſt
mit einem Vorübergehenden zuſammengeſtoßen, hätte dieſer
nicht eine Schwenkung nach rechts vollführt.
„Aber Hermann,“ rief derſelbe lachend, „es war nie-
mand anders, als Graf Hartenegg, — „Du rennſt mich
ja über den Haufen, laß Dich mal anſehen, mein Freund,
Er warf
einen Blick auf das Haus, vor dem ſie ſtanden, dann fuhr
er fort: „Om, Du ſuchſt Dir jetzt noble Quartiere aus,
das muß man Dir laſſen. Hier wohnt wohl Frau von
Merving 2“ ö
Mittlerweile hatte ſich Ranke gefaßt. „Du biſt voll-
ſtändig im Irrthum, Hans, hier wohnt ein Amerikaner,
deſſen Tochter ich behandle. Die Kranke hat mir ſchwere

Sorge gemacht, aber ſeit acht Tagen iſt ſie entſchieden in
der Geneſung.“ ö ö

„Iſt ſie jung, Hermann “
„Ich ſchätze ſie auf ſiebzehn bis achtzehn Jahre.“
„So, nun dann erkläre ich mir Dein Geſicht von vor-
hin. Aber eine Patientin wird wohl endlich Frau Doctorin
werden, das bin ich überzeugt. Sei ſtill, Hermann, ver-
theidige Dich nicht, meine Augen ſehen ziemlich ſcharf,
außerdem wird die Zeit ſchon kommen, daß Dein Herz zu
voll wird und Du das Bedürfniß haſt, Dich mitzutheilen.“
Ranke war unſchlüſſig, er hatte ſich noch kaum Rechen-
ſchaft gegeben, welcher Art ſeine Gefühle waren, aber ſie
waren ganz verſchieden von denen, welche ihn zu Fanny
von Merving hinzogen. Sie entzückte ihn durch ihr ſpru-
delndes, übermüthiges Weſen, durch ihr raſches Eingehen
auf alle loſen Einfälle, während bei Jeſſy ihn das Gemüth,
die Seelentiefe feſſelte, welche neben aller Schelmerei aus
ihren Augen ſtrahlte. Des Freundes Wort brach den
 
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