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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 27 - Nr. 34 (3. April - 28. April)
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hkidelberger Familien

lätter.

ö Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Ar. 27.

Samstag, den 3. April

1886.

Zun Jindwurn.
Roman von B. Renz.
Nachdruck verboten. Geſetz v. 11. Juni 1870.
I.
„Gut, mein Kind, ich will annehmen, daß du mir in
allen Dingen die Wahrheit geſagt, mir überhaupt alles ge-

ſtanden haſt, was dieſe unangenehme Sache aufzuklären

vermag. Und nun rekapituliren wir noch einmal. Sollte
ich irgendwo dich falſch verſtanden haben, ſo biſt du ver-
pflichtet, mich zu belehren.“ ö
Der kleine alte Herr mit dem charakteriſtiſchen eckigen
Kopfe, aus deſſen harten Zügen eine unbeugſame Willens-
kraft zu ſprechen ſchien, ſtand vor dem ſiebzehnjährigen

Mädchen, welches in der Sophaecke ſaß und ſchluchzend das

Taſchentuch vor die Augen gepreßt hielt. Sie war vor
einer Stunde, am frühen Vormittag, aus dem großen
Mädchenpenſionat der Reſidenz D. ganz unerwartet in's
väterliche Haus zurückgekehrt und vom geſtrengen Herrn
Vater nicht eben zu freundlich empfangen worden.
„Alſo,“ fuhr dieſer fort, „du haſt die Penſion gegen
meinen Willen — und wahrſcheinlich auch gegen den

deinigen — verlaſſen, um ein Jahr früher verlaſſen, als

es beabſichtigt war; und der Brief der Demoiſelle Clemence
beſagt — doch ich will ihn dir vorleſen:
Geehrter Herr Carſtens!
Ich bedaure, Ihnen Ihre Tochter Sibylla zurückſenden
zu müſſen; Fräulein Sander, eine meiner Lehrerinnen, wird
ſie begleiten und Ihnen eventuell Details mittheilen können.
Die Sache iſt kurz die: Billa hat ein Verhälkniß ange-
knüpft mit einem hieſigen Offizier, der ſie zu lieben vor-
gibt und dreiſt genug war, einen meiner Leute zu beſtechen,
um Zutritt in den Garten des Inſtituts zu erhalten. Sie
werden begreifen, daß ich derartiges nicht dulden kann,
und mir zugleich dankbar ſein, wenn ich Ihnen noch ſage,
daß der Name des Offiziers von Fliſſen iſt. — Es

ſchmerzt mich um ſo tiefer, als ich mit Billas Mutter

eng befreundet war und das Kind mit beſonderer Zärtlich-
keit liebe. —
„Es ſträubt ſich etwas in mir, die „Details“ dieſer
Begebenheit von der Lehrerin zu erfahren,“ begann Herr
Carſtens wieder; „es werden zu traurige Verhältniſſe be-
rührt durch deinen Leichtſinn, und der Name dieſes Men-
ſchen erregt mich tief. Doch das konnteſt du nicht wiſſen,
wirſt es erſt ſpäter mal erfahren. — Alſo, du haſt ihn
zuerſt auf der Promenade geſehen, wenn die Lehrerin euch
führte?“ ö ö
Das Mädchen nickte ſtumm. ö
„Dann auch in der Kunſtausſtellung und ſogar wäh-
rend des Gottesdienſtes, nicht wahr? Es heißt ja wohl
Kirchenparade? — Gut! Später hat die Friſeuſe dir be-
richten müſſen, wie lieb du ihm biſt? Du ſagteſt vorhin,
dieſe gefällige Dame ſei die Braut von dem Burſchen des
Herrn Lieutenants? Und dann — —“
„Ach Vater!“ ſchluchzte das Mädchen, „ich bin ja ganz
—— n—n ich habe die Friſeuſe ausgefragt nach ihm,
da erſt — ö ö

„Da erſt“ — unterbrach der alte Herr die Weinende,
„da erſt wagte der ſaubere Patron dir einen Brief zu ſen-
den durch den gefälligen postillon d'amour, und du haſt
natürlich auf demſelben Wege geantwortet —“
„Nein, Vater, das iſt nicht wahr, ich habe ihm nicht
geſchrieben, das hätte ich nie gethan!“ Sie hatte ſich auf-
gerichtet und ſah den Vater mit verweinten Augen an.
„Aber er ließ mich wiſſen, er müßte vielleicht fort von D.
und möchte mir nur ein einzigesmal ſagen, wie gut er mir
iſt und ob ich nicht Abends in den Garten kommen wollte.
Und da bin ich hingegangen, Elſe von Sanden kam mit
und ihn begleitete auch ein Kamerad, und da erzählte er
mir, er habe keine Eltern mehr und fühle ſich ſo unglück-
lich, und ich gab ihm die Hand und ſagte, ich hätte auch
keine Mutter mehr — und — weiter iſt — nichts — —“
Ein krampfhaftes Schluchzen erſtickte ihre Stimme.
Der alte Herr war plötzlich an's Fenſter getreten. Ja,
ſie hatte keine Mutter mehr, das war's eben! Die Erin-
nerung an die Verſtorbene ergriff ihn immer unſagbar.
Er hatte ſie ſo namenlos geliebt, und ſie war ihm gefolgt
gegen den Willen ihrer Verwandten; denn als Bitten und
Vorſtellungen nicht halfen, da hatte er das Weib ſeiner
Wahl erkämpft mit Liſt und Gewalt. Beſaß er doch in
ſeiner Jugend ſiedend heißes Blut und einen unbeugſamen
Willen. ö
„Billa,“ wandte er ſich zu dem Mädchen, das wieder,
ein Tuch vor den Augen haltend, in der Sophaecke lehnte,
„Kind, ich will dir glauben, daß nichts Unrechtes paſſirt
iſt; ich bin feſt überzeugt, daß die Tochter meiner unver-
geßlichen Anna nie anders handeln kann als gut und recht.
Aber dennoch, du durfteſt es nicht thun; ich würde über-
haupt nie und nimmer zugeben, daß mein Kind einen
Offizier heirathet, und wär's ein General; noch viel weni-
ger aber — hörſt du! — noch viel weniger würde ich ge-
ſtatten, daß du die Gattin eines Mannes wirſt, der den
Namen von Fliſſen trägt, ein Sohn des Weibes, das
ich mehr gehaßt und verachtet habe, als irgend ein Ge-
ſchöpf der Welt.“ Er ſchwieg tief athmend und ſchritt im
Zimmer auf und ab. ö ö
„Vater, was hat dir der Lieutenant von Fliſſen gethan?
Was iſt's mit ſeiner Mutter 2“ Billa blickte ihren Vater
an mit Augen, die keineswegs eine willenloſe Ergebung in
den väterlichen Machtſpruch verkündeten.
5„Was mir der Menſch gethan hat?“ rief Herr Carſtens
mit dunkelrothem Geſichte. „Ich ſage dir, ſeine Eltern —
— der Vater ein erbärmlicher Geſelle, ſeine Mutter ein
nichtswürdiges Weib, — ſie haben uns gehetzt, als wären
wir Geächtete, ſie haben deiner Mutter Ehre beſudelt und
ihr ſchließlich den Tod gegeben! Geh mir mit einem, der
von Fliſſen heißt!“
„Vater, verſündige dich nicht! Was kann er dafür,
daß ſeine Eltern ſo ſchlecht an dir und der Mutter han-
delten. Er iſt gewiß ein guter Menſch.“ Sie trat zu dem
alten Herrn und hielt ihm flehend beide Hände entgegen.
„Pah! Der Apfel fällt nicht weit vom Stamme!“ er-
widerte er kalt und trat die Wanderung von neuem an.
Das Mädchen ſetzte ſich wieder in's Sopha und faltete
 
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