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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 27 - Nr. 34 (3. April - 28. April)
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Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Yr. 31.

Samstag, den 17. April

1886.

Zum Jindwurn.
Roman von B. Renz.
(Fortſetzung.)
Da ſaß in der Sophaecke der Herr Kreisphyſikus, der
in aller Eile ein Gläschen Graves zu ſich nahm und von
einer neuen wunderbaren Kur erzählte, neben ihm der
Juſtizrath Neſemann, ein alter Herr mit weißem Haar und
intelligenten etwas ſarkaſtiſchen Zügen und prüfte den gol-
denen Inhalt eines Schoppens Rüdesheimer Berg, ſeines
Lieblingsweines, mit Aug' und Naſe. Da ſaßen mehrere
der erſten Kaufleute des Ortes, Detailhändler im Schnitt-

waaren⸗ und Kolonialgeſchäft, ferner der Amtmann und

Domänenpächter, einige Aſſeſſoren des Landgerichtes und
in beſcheidener Ecke der Stadtſchreiber Krempel mit dem
Schullehrer. Es herrſchte damals unter den älteren Herren
der Geſchmack für Franzwein vor, das heißt für weißen
franzöſiſchen Wein, der aber mindeſtens fünfzehn bis zwanzig
Jahre alt ſein mußte, wenn er munden ſollte. Die jüngere
Generation dagegen verachtete dieſes Getränk ohne Blume,
und protegirte die Moſel- und Rheinweine, denen Herr
Carſtens ſeine beſondere Sorgfalt widmete, weil er ſie für
die edelſten Gewächſe hielt. Auch der Juſtizrath Neſemann
vertrat dieſe Richtung, welche gar häufig das Geſprächs-
thema im Lindwurm bildete. Heute jedoch beſchäftigte ſich
die Unterhaltung ſehr lebhaft mit einem durchaus andern
Gegenſtande, nämlich mit dem Gerücht von dem beabſich-
tigten Bau einer Eiſenbahn nach Reicha, das ſeit etwa zwei
Jahren in gemeſſenen Zwiſchenräumen ſo regelmäßig wieder
auftrat, wie die bekannte Seeſchlange. Die älteren Herren
hatten mancherlei einzuwenden, beſonders Herr Stadtrath
Carſtens eiferte dagegen, denn die Bahn diene nur dazu,
die Ausfuhr der Lebensmittel zu erleichtern, und alles zu
vertheuern.
„Außerdem“, ſchloß er ſeine Rede, „bringt der Bau
uns viel fremdes Geſindel in's Land, gerad wie vor fünf-
undzwanzig Jahren der Chauſſeebau. Dazumal,“ ſetzte er
hinzu, „nachdem er einen Schoppen Franzwein für einen
der Gäſte entkorkt hatte, „gab das Obergericht den Aus-
ſchlag, das der Herr in ſeinem Zorn erſchaffen hat; und
wäre es im Orte geblieben, hätte es auch durchgeſetzt, daß
wir eine Garniſon bekamen. Na, das fehlte bloß noch!“
„Ne Garniſon?“ fiel ihm Herr Markart in's Wort,
der Schnittwaarenhändler und Vater dreier erwachſener
Töchter, „das wäre ſo übel gar nicht. Ein Exercierplatz
iſt auf dem Stadtanger ſchon vorhanden, der jetzt doch nur
für ein paar Gänſe benutzt wird, das alte Kloſter wäre
eine ſchöne Kaſerne und könnte der Stadt einen Groſchen
einbringen, ſtatt daß es jetzt nur Geld koſtet, von wegen
der Reparaturen.“
„Jawohl,“ akkompagnirte Herr Stange, ebenfalls Vater
zahlreicher Töchter und Beſitzer eines Ladens „ächter im-
portirter Havanacigarren,“ „übrigens iſt ſchon vor einigen
Jahren der ganze Plan fix und fertig geweſen, um ein
Bataillon hier unterzubringen; ich begreife gar nicht, was
die Sache aufgehalten hat; uns könnte ſie nur zum Vor-
theil gereichen.“ ö

Carſtens.

„Natürlich, dann ſteigen alle Waaren im Preiſe,“ be-
merkte Stadtrath Carſtens giftig mit einem Seitenblick auf
die beiden Herren, die eben geſprochen hatten, „ſogar die
Töchter des Landes.“ ö
„Je nun,“ meinte Herr Markart ſcheinbar gleichmüthig,
„wie der Herr will! Der Lindwurm hat übrigens am
Markt die Nummer Eins.“ ö
„Die Nummer Eins wird aber ihre Weinſtube lieber
ſchließen,“ erwiderte Herr Carſtens gereizt, „als daß ſie
die rothen Kragen duldet, wahrhaftig.“
„Na, na, Carſtens,“ miſchte ſich der Juſtizrath Neſe-
mann in den Wortwechſel, und er durfte es als langjähriger
Freund und Stammgaſt eher wagen, als jeder andere,
„das laß unterwegs, damit würdeſt du dich nur lächerlich
machen und den Lindwurm ſeines guten alten Rufes be-
rauben. Aber nimm einen gewandten Kellner an, der den
Wein verzapft, für dich paßt ſich das nicht mehr. So,
nun iſt's heraus!“
Der Stadtrath brummte etwas in den Bart, aus dem
ſich heraushören ließ, daß ſeine Tochter ihm ungefähr das-
ſelbe angedeutet habe. Dann fragte er plötzlich:
„Apropos, Juſtizrath, wohin fuhr der Bürgermeiſter
heute ſchon ſo früh, und noch dazu mit Extrapoſt?“
„Kann's nicht ſagen,“ erwiderte dieſer, „ich hörte nur
in unſerem Hauſe, daß geſtern Abend ein großer Brief an-
gekommen iſt, und daß Kleinmichel ſofort nach der Poſt
geſchickt hat, um die Extrapoſt zu beſtellen.“
Der Juſtizrath und der Bürgermeiſter Kleinmichel
wohnten in einem Hauſe unfern des Domes, und merk-
würdigerweiſe kannte jeder genau die Ereigniſſe, welche in
der Wohnung des andern ſich zutrugen, oft beſſer als ſeine
eignen, wie ſich das auch in einer kleinen Stadt gehört.
„Vielleicht iſt er nach Z. gefahren und holt Beſuch vom
Bahnhofe,“ bemerkte ſchüchtern der Stadtſchreiber und ſtrich
ſich verlegen mit der Hand durch das dünne Haar.
„Da kennen Sie den Bürgermeiſter ſchlecht, liebſter
Krempel,“ erwiderte der Juſtizrath, „wenn Sie glauben,
er holt ſich Beſuch mit Extrapo ſt. Nein, — aber es
muß etwas Beſonderes zu bedeuten haben. Nun, wir wer-
den es bald erfahren. — Hm — Kleinmichel und Extrapoſt!“
„Vielleicht holt er ſich einen Schwiegerſohn,“ meinte
Herr Markart witzig, „er kann einen gebrauchen —“
„Oder eine Frau,“ ſetzte Herr Stange hinzu. „Wittwer
iſt er lange genug.“
„Oder einen Orden, nach dem er ungemeſſene Sehn-
ſucht empfinden ſoll,“ tönte es von einer andern Seite.
Aber dieſe Geiſtesfunken verpufften ohne Beifall, denn in
dieſem Augenblick erklang das Signal einer Extrapoſt, und
wenige Augenblicke ſpäter hielt das Gefährt vor dem
„goldenen Hirſch“ und Wirth und Kellner ſtürzten aus der
Hausthür.
„Gott ſteh uns bei, was bedeutet das?“ rief Herr
ö „Beſter Juſtizrath, ſchau hin — da — zuerſt
Kleinmichel, und jetzt — ein Oberſt oder ein Major, und
da noch ſo eine Duodezausgabe von einem Feldmarſchall —
und nun eine andere Uniform. — — Stadtſchreiber, was
bedeutet das, Er muß es wiſſen 2“ ö
 
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