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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 27 - Nr. 34 (3. April - 28. April)
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Heidelberger Familienl

lätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Ar. 29.

Samstag, den 10. April

1886.

———

Zun Lindwurn.
Roman von B. Renz.
(Fortſetzung.)

„Die arme Mutter!“ ſeufzte das junge Mädchen'

„Aber recht war es doch, daß ſie dem Vater folgte, ich
hätte es auch gethan!“ ö
„Kind! Kind! Was ſoll ich nur von dir denken?“
klang es faſt ängſtlich. „Wie kommſt du darauf?
Hoffentlich iſt es nur ſo ein Penſionsgeſchwätz, ohne ernſte
Ueberlegung!“
„Wer weiß, Tante! Aber wenn es ſo weit iſt, dann
hole ich mir deinen Rath ein, du biſt ja mit ſolchen
Affairen gut bekannt. Nun aber erzähle mir von meiner
Mutter. Wie ſah ſie aus? In welchen Zimmern wohnte
ſie? Hat Vater noch ihre Sachen? O, ich möchte ſo gern
etwas von ihr hören!“ ö
„Wenn du jetzt vernünftig ſein willſt, Billa,“ erwiderte
Tante Roſe ernſt, „vernünftig, wie es einem jungen Mäd-
chen zukommt, das in dem erſten Inſtitut der Reſidenz er-
zogen wurde, dann will ich deine Bitte erfüllen. Alſo
höre: Deine Mutter war, wie ich ſchon ſagte, zwanzig
Jahre alt als ſie deinen Vater heirathete, und ſie war
ein — hm — recht anſehnliches Mädchen; du ſiehſt ihr
frappant ähnlich, Kind.. ö
„Auch dein Vater war ein hübſcher ſchlanker Mann,
der ſich die Manieren der Reſidenz zu eigen gemacht hatte,

und zugleich ein tüchtiger Geſchäftsmann. — Nach der

Rückkehr von der Hochzeitsreiſe zog das junge Paar in den
Gertraudenhof vor dem Steinthor, weil dein Vater ſeine
Frau dort für ſicherer hielt vor den Nachſtellungen der
Verwandtſchaft. Er nahm auch ſeinen Markthelfer, einen
gelernten Gärtner mit, der juſt auch geheirathet hatte, den
alten Neitzel, der heute noch dort wohnt. Und in jenem
Hauſe verlebte dein Vater ſeine glücklichſten Jahre, dort biſt
du geboren und dort ſtarb deine Mutter.
„In dem alten grauen Steinhaufen, Tante?“ fragte
Billa erſtaunt. „Warum heißt er denn Gertraudenhof,
Mutter heißt doch Anna?“
„Der alte Steinhaufen, wie du das große maſſive Ge-
bäude nennſt, liebes Kind,“ belehrte Tante Roſe, „war vor
vielen hundert Jahren eine Art Armenhaus, verbunden mit
einem Spitale für Pilger, denn die heilige Gertrud galt
als Schutzpatronin der Armen. Da nun vor etwa vier-
hundert Jahren die Heerſtraße noch über Reicha führte,
war der Verkehr ein viel lebhafterer als heute und darum
iſt der Gertraudenhof auch ein ſo mächtiges Gebäude. Er
ſoll aus frommen Stiftungen und dem Ertrag milder Ga-
ben erbaut ſein.
den, iſt aber vor vielen Jahren ſchon abgebrochen worden;
die hohe Gartenmauer und der Wartthurm auf derſelben,
in welchem ein Wächter hauſte, ſtammen auch noch aus der
älteſten Zeit.“ ö

„Aber, Tante, ſeit wann iſt Vater im Beſitz dieſes
Hauſes?“ fragte das Mädchen. „Ich bin zwar als kleines

Eine Kapelle hat dort auch einſt geſtan-

Kind zuweilen im Gertraudenhof geweſen und habe mit
Reitzels Kindern im Garten und dem alten Thurme ge-
ſpielt, aber nie wußte ich, daß das Grundſtück uns gehört,
nie bis heute, wo Vater davon ſprach. Soweit ich mich
erinnere, habe ich auch nie das Haus betreten, wenigſtens
nicht die oberen Räume.“
„Dein Urgroßvater kaufte den Gertraudenhof, mein
Schatz,“ berichtete die alte Dame, „ſowohl der ſchönen Lage
als auch des prächtigen Gartens wegen, und dein Groß-
vater ließ das alte Gebäude vollſtändig reſtauriren und
ausbauen. Er wollte dort ſeine Tage beſchließen, aber es
kam anders; er blieb im Lindwurm, um den Arzt näher
zu haben; er lag nach der ſchweren Erkrankung mehrere
Jahre völlig gelähmt.“
„Nun werde ich mir das Haus, wo meine Mutter ge-
lebt hat und geſtorben iſt, doch recht bald genauer anſehen,“
verſicherte Billa. ö
„Ja, Kind, das möchte ſchon ſein. Aber,“ fügte Tante
Roſe hinzu, „dein Vater, der nach dem Tode ſeiner Anna
vor Schmerz faſt verkam, hat damals das Zimmer der
Verſtorbenen und das ganze Wohngelaß verſchloſſen ge-
halten bis auf den heutigen Tag; nicht ein Stück iſt dort
verändert worden. Und wenn er auch anfangs dieſe Räume
jährlich einigemale zu beſuchen pflegte, ſo iſt es doch ſeit
langem nicht mehr geſchehen. Neitzel würde dich auch gar
nicht hinein laſſen, ſelbſt wenn er die Schlüſſel hätte.“
Das junge Mädchen ſchüttelte traurig den Kopf. „Dann
bitte ich den Vater darum,“ ſagte ſie endlich, „er darf es
mir nicht verſagen, alles von meiner guten Mutter kennen
zu lernen, um mir ein Bild von ihr machen zu können.

Und nun, Tante, was iſt das für eine Beleidigung ge-

weſen, die meiner Mutter das Leben gekoſtet hat?“ ö
„O Kind, das iſt zu abſcheulich,“ wehrte die alte Dame
ab, „das kann ich dir nicht ſagen. Du warſt gerade drei
Tage alt, als ſie ſtarb.“
„Ich werde es erfahren,“ beharrte das Mädchen, „ich
muß es erfahren; es geht mich näher an, als du denkſt!
— Tante,“ ſetzte ſie nach einer kurzen Pauſe hinzu, „darf
man die Kinder verantwortlich machen für die Fehler der
Eltern?“ ö
„O bewahre, Herzenskind! Aber was ſoll das? Warum
fragſt du ſo? Dein Vater iſt ein trefflicher Mann, der

nur darauf ſinnt, dich glücklich zu machen.“

„Gott geb's!“ ſagte Billa leiſe. „Aber das Geheimniß
muß ich herauskriegen, das bin ich ihm ſchuldig!“

II.

Wenige Tage ſpäter, Sonntag den dreißigſten Auguſt,
ſaßen drei Herren um den Marmortiſch eines der vor-
nehmſten Reſtaurants der Reſidenz D., angelegentlich be-
ſchäftigt, eine große Platte mit Auſtern zu vertilgen und
eine Flaſche duftenden St. Péroy zu leeren. Dann und
wann flog ihr Blick durch die mächtigen Spiegelſcheiben
nach dem Schloß hinüber und auf den mit Linden beſetzten

Platz vor demſelben, der heute nach beendeter Parade als

Spielplatz der Kinder diente. ö
Der ältere der Herren, ein kleiner behäbiger Fünfziger
 
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