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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 96 - Nr. 104 (1. Dezember - 29. Dezember)
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ridelberger Fanilirnblätter.

Ur. 96.

Mittwoch, den 1. Deeember

Vellelriſliſche Beilage zur Heidelberger Zeitunng.

1886.

— —

Zub toſa.
Novellette von Zos von Reuß.
Nachdruck verboten. Geſetz v. 11. Juni 1870.

Draußen vor dem Aegidienthore lag die kleine einfache
Villa, in deren Parterregeſchoß ſich der Maler Eberhard
Wolff ſein Atelier eingerichtet hatte. Vor etwa anderthalb

Jahren war er mit ſeiner Frau hier eingezogen. Er hatte

Dora Hellwald nach kurzer Bekanntſchaft geheirathet, denn
ſie war Waiſe und allein ſtehend geweſen; die Mutter,
eine Beamtenwittwe, bei welcher der junge Künſtler zwei
Monate zur Miethe gewohnt, war unerwartet während dieſer
Zeit geſtorben, und die junge Muſiklehrerin hatte ſich, un-
glücklich und ſelig zugleich, an das liebende Herz des Man-
nes geflüchtet, den die Mutter, von der Sorge um die
ſchutzloſe Tochter erleichtert, noch ſcheidend „Sohn“ ge-
nannt hatte.
Es war ein herrlicher Maitag, warm, aber noch ſtaub-
frei, knoſpenfriſch und abendkühl, einer von jenen Früh-
lingstagen, die man auch in der Stadt noch mit Behagen
und ohne Fernweh genießt. In dem Gärtchen blühten
Jasmin, Goldregen, und bienenumſummter Holunder, und
auf der hellgrünen Raſenfläche dufteten noch die allerletzten
Veilchen und lag verſtreueter Apfelblüthenſchnee. Am
blauen Himmel aber hingen zarte, feuchte, leichte Wolken-
gebilde wie vergeſſene Winterſchneeflocken. ö
Auf der kleinen Veranda ſaßen die jungen Gatten am
Kaffeetiſche. Eberhard hielt eine Cigarre in der Hand,
legte ſie aber zuweilen nieder und griff nach der Bleifeder,
um gewohnheitsmäßig einige leichte Striche auf das Papier
zu machen. Dora kannte längſt dieſe eng mit ſeinem Be-
rufe zuſammenhängende Gewohnheit, und er fand das
leichte Material darum jederzeit und überall, im Wohn-
zimmer, in der kleinen Eßſtube, ja ſelbſt beim erſten Kaffee-
trinken auf der Veranda fehlte es nict.
„Haſt Du ſchon wieder Pläne für eine neue Arbeit,

Eberhard?“ frug die junge Frau, indem ſie von ihrer

Stickerei aufblickte.

„Pläne? Immer, Schatz! Aber noch iſt nichts Reifes,

Fertiges, Abgeſchloſſenes dabei. Und doch iſt Einheit in
der Kunſt jederzeit das erſte! Halt,
dieſer ungewöhnlichen Stunde 2“0

„Ein Diener hat ihn ſoehen gebracht!“ erwiderte das

ſaubere Dienſtmädchen. ½ Er wartet auf Antwort.“
Eberhard hielt das feine, ſtarke Couvert mit den feſten

lich ſchien ihm der richtige Gedanke zu kommen, er erbrach
daſſelbe eilig und überflog den Inhalt.
Er war nur kurz, aber er ſchien den jungen Künſtler
zu electriſiren. *
„Sagen Sie dem Diener, ich würde morgen früh die
Ehre haben, das gnädige Fräulein aufzuſuchen!“
„Das — Fräulein 2“ frug Dora etwas verwundert,
als das Mädchen mit der Botſchaft gegangen war. „Wel-
ches Fräulein?“ Entſchuldige, ich bin nicht neugierig,“
verbeſſerte ſie ſich.

ein Brief? Und zu ů
— Innun einmal ſchlecht von
ſcherzend hinzu.

„Und ich habe nichts zu verheimlichen! Der Brief iſt
von Fräulein Tony von Bertrab, meiner früheren Schü-
lerin, von der ich Dir oft erzählt habe. Sie iſt nach
zweijähriger Abweſenheit aus Italien zurückgekehrt und
wünſcht mich zu ſprechen. Vermuthlich um den unter-
brochenen Unterricht wieder aufzunehmen.“ 33
„Und willſt Du ihr Lehrer werden?“ ——*
„Natürlich — mit ganz beſonderm Vergnügen!“
„Und doch verfolgteſt Du den Plan, einige Jahre ganz
ungeſtört Deiner letzten Ausbildung zu leben? Beſonders
aus dieſem Grunde wählten wir die entferntere Wohnung,“
warf Dora ein. ö
„Von Störung iſt in dieſem Falle auch nicht die
Rede — eher von Förderung! Es war immer ein wun-
derbares, von hoher Begnadigung zeugendes Verſtändniß
für Kunſt in der jungen Dame. So kam es, daß ſie
brillante Fortſchritte machte, und daß unſer Verkehr ein
genußreicher ward. Hätte ich Dir ihn jemals anders ge-
ſchildert? Erinnere Dich!“ ö
O Dora erinnerte ſich ſehr wohl! Aber ſie erinnerte
ſich auch eines Gerüchtes, welches den bekannten und be-
liebten jungen Maler Eberhard Wolff den begünſtigten Be-
werber der jungen Dame genannt hatte. Das war un-
gefähr zu der Zeit geweſen, als derſelbe die Wohnung bei

Doras verſtorbener Mutter bezogen hatte und in den Ge-

ſichtskreis des emporblühenden jungen Mädchens getreten
war. Bald darauf war Fräulein von Bertrab mit ihrem
Vater nach Italien gereiſt, und der Hausgenoſſe der will-

kommene tägliche Geſellſchafter von Mutter und Tochter ge-

worden. Wie kam es, daß dieſe goldige Erinnerung ihr
plötzlich getrübt ward? Warum krampfte ſich mit einem-
male ihr Herz zuſammen? Zweifelte ſie an der Liebe des
Mannes, der ſo uneigennützig gewählt hatte, und deſſen
Ehre fleckenlos war? Sollte, ſeine offene, ungeſchminkte,
herzliche Zuneigung nicht auch die Probe beſtehen, falls ſie
an ihn heran trat? Unbegreifliche Thorheit, Frevel,
Sünde! Die junge Frau empfand etwas wie Scham.
Unbegründete Eiferſucht iſt immer das Bewußtſein und Ein-
geſtändniß eigener Schwäche oder Unliebenswürdigkeit. ..
„Auch wäre mir eine Vergrößerung unſerer Einnahmen
immerhin recht willkommen“, fuhr der Gatte unbefangen
fort, indem er wieder den Stift ergriff. „Es lebt ſich
— Vergißmeinnichtſalat!“ ſetzte er

Dora blickte auf und ſah in ein treues, luſtiges Auge.

Sberha Unwillkürlich ſchalt ſie ſich von neuem.
Schriftzügen einen Augenblick ſinnend in der Hand, plötz.

„Ich werde mein Honorar Deiner Wirthſchaftskaſſe

überweiſen, als Entſchädigung dafür, daß Du vielleicht von

jetzt an häufiger allein ſein wirſt! Aber es iſt die Stunde
unſeres Spaziergangs, Kleine! Bitte, nimm Hut und
Mantille!ꝰ — * — 71111
Erleichtert und ſich im Stillen immer noch ſcheltend,
flog die junge Frau ins Haus und war bald zum Aus-

gehen gerüſtet. Man wählte jetzt immer mit Vorliebe Feld-

ſpaziergänge, um die Weiterentwicklung des Frühlings zu
genießen. Auch jetzt ſchlugen ſie gleich am Anfang der
Promenade einen Nebenweg ein, der die Häuſer und Gär-
 
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