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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 70 - Nr. 78 (1. September - 29. September)
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ridelberger

amilienblätter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Ur. 77.

Samstag, den 25. September

1886.

Der Sänger von Sallo.
Eine braſilianiſche Geſchichte von B. Riedel⸗Ahrens.
(Fortſetzung.)

III. ö
Ungefähr vier Wochen waren ſeit dieſem verhängniß-
vollen Abend am Saltofalle vergangen. Francisko de
Serro war infolge der ſorgfältigen Behandlung des Arztes,
den man von Campos hatte kommen laſſen, vollſtändig ge-
neſen; der unglückliche Sturz ließ demnach keine weiteren
Folgen für ſeinen Körper zurück.
Aber in dem Innern des jungen Studenten war nicht
alles wie es früher geweſen; er fühlte ſich beſchämt von
Jucas edler Handlungsweiſe gegen ihn und verſuchte ſich
dadurch dankbar zu erweiſen, daß er den Eltern zuſprach,
ihre Einwilligung zu der Heirath ſeiner Schweſter nicht
länger zu verſagen. Dieſe waren denn auch ſchließlich be-
reit, dem Wunſche des Sohnes zu willfahren und die
öffentliche Verlobung ſtattfinden zu laſſen.
Aber Juca ſelbſt erſchien ſeit jenem ereignißreichen
Abend wie verwandelt. Sein Gehör war bis dahin nicht
zurückgekehrt, er blieb nach wie vor taub, und die Aerzte,
welche er um Rath befragte, zuckten die Achſeln; die Opera-
tion würde äußerſt ſchwierig ſein, meinten ſie, auch ſei der
Erfolg nicht zu garantiren. Nur einer der gelehrten Herren,
der Juca eingehender und mit liebevollem Intereſſe unter-
ſuchte, hatte die Anſicht ausgeſprochen, die Zeit, oder auch
ein beſonderer Zufall könne ihn doch ſchließlich wieder von
ſeinem Leiden befreien.
Der Hoffnungsſchimmer, welcher nach dem Ausſpruch

dieſes Doktors in ihm erweckt worden, verſchwand nur zu

bald in der Schwermuth, die ſich ſeiner bemächtigt hatte.
Traumbefangen ging er umher, zerſtreut, als ob ſein Geiſt
in anderen Regionen weile. Oft verſchwand er tagelang
im Innern des Waldes, oder er fuhr mit ſeinem Kahn
ſtromabwärts, weit hinaus auf den Parahyba. Hatte er
ſchon früher wenig Verkehr mit ſeinen Kameraden gehalten,
ſo vermied er ſie jetzt gänzlich, er war mißtrauiſch und
menſchenſcheu geworden. Zuweilen erblickte man ihn des
Abends mit bleichen und verſtörten Zügen in der Nähe des
Saltofalles; es zog ihn gleichſam mit geheimnißvoller Ge-
walt nach der Stätte des Unglücks, wo ſein hartes Schickſal
ihn erreichte.
Sein einſt ſo weiches und hingebend liebevolles Gemüth
war gänzlich verändert. Er wußte ſich noch immer nicht
zurecht zu finden in dem neuen Daſein, das in ſeiner troſt-
loſen Oede einem frühen Tode glich. Es kamen Augen-
blicke, da er, halb wahnſinnig vor Verzweiflung, ſich ſelbſt

erſchien wie ein Schatten, der, aus dem Eden verbannt,‚

verurtheilt war, wie ein Geſpenſt über dieſe Erde zu gehen.

Er hörte nicht mehr das Rauſchen des Saltofalles, der

ihm, ſeitdem er in der Wiege lag, das gewaltige Lied ge-
ſungen; er hörte nicht die ſüße Muſik der Vögel auf den
Inſeln des Parahyba im Morgenglanz, nicht mehr die ge-
heimnißvollen Töne des Urwaldes in den ſchaffenden Stun-

den der Nacht. Er vernahm nicht länger das Flüſtern
des Windes auf den ſpielenden Wellen des Waſſers, noch
die geheimnißvollen Stimmen der Harmonie im ganzen All;
er konnte nicht mehr den Liebesworten Mariettas lauſchen
und endlich nicht die eigenen Melodien hören in dem poeſie-
vollen Wiedergeben der Sprache, die er der Natur ent-
nommen.
In ausdauernder Hartnäckigkeit ſuchte er jedem Zu-
ſammentreffen mit ſeiner Braut auszuweichen, ohne wohl
ganz zu begreifen, wie ſchmerzlich ſie unter dieſer ſchein-
baren Kälte ſeinerſeits litt. Es hatte ihn der Wahn er-
faßt, daß jeder fortan nur noch mit ihm Mitleid haben
könne, und der ſchrecklichſte Gedanke. war ihm der, auch
Marietta könne nur noch Liebe heucheln, aus Pflichtgefühl
und Bedauern. Er wollte dieſes Mitleid nicht! Las er
es doch auf allen Mienen, in dem Geſichte jedes Bekannten,
in den bekümmerten Zügen ſeiner alten, braven Mutter!
Auf der Straße blieben die Leute ſtehen und ſahen ihm
kopfſchüttelnd und traurig nach; überall, wohin er immer
die Augen wenden mochte, ſtatt der einſtigen Bewunderung
und Begeiſterung gewahrte er das fürchterliche Mitleid!
Da bemächtigte es ſich ſeiner zuweilen wie Hohn und
Wuth, er lachte wild auf und ballte wie im Ingrimm ſeine
Fauſt; ſeine Stimme hatte wohl wieder den alten melo-
diſchen Klang angenommen, aber in ſeinem ganzen Weſen
lag doch etwas Fremdartiges, das ſeine Umgebung mit
bangem Weh erfüllte. Sie kannten es nicht an ihrem
Liebling, dem Sänger von Salto, deſſen ganzes Sein ſo
offen wie ein Buch vor ihnen allen gelegen. Da begann
man ſich denn in's Ohr zu flüſtern, erſt ein zages Wort,
dann ein anderes dazu, bis es mit ſcheuen Blicken im
Dorf von Mund zu Munde ging: „Mit dem armen Juca
ſteht es traurig, man fürchtet allgemein — ja, hier und
dort behauptet man es ſchon, er ſei — wahnſinnig!“
Aber darin hatten die Bewohner von Salto doch nicht
recht, wahnſinnig war der junge Fiſcher keineswegs; war
doch Niemand von ihnen im Stande, nur entfernt den
Kampf zu ahnen, der ſich in ſeinem Innern vollzog. Er
war heute Abend, wie es ſeit Wochen nicht mehr vorge-
kommen, mit reicher Beute vom Fiſchfang heimgekommen
und ſaß nun kurz vor Sonnenuntergang auf der Bank vor
ſeiner Wohnnng am Ufer. Seine Mutter näherte ſich ihm,
als er ſo ſtarr und regungslos in die Ferne blickte und
ihre Arme um ſeinen Nacken ſchlingend, zog ſie ſein Haupt
ſanft gegen ihre Bruſt.
„Mutter!“ flüſterte er weich und ſchlug die ſchwarzen
„Augen zärtlich zu ihr auf.
Da erblickte er in den ihren eine Thräne der Liebe
und — des Mitleids. Juca fuhr zuſammen und erkältend
durchzog es ihn. Zu jeder Stunde mußte er das ewige,
verhaßte Mitleid ſehen, ohne ihm entrinnen zu können;
wenn man doch ſeine Ruhe ehren und nicht immerfort ihn
an ſein Elend erinnern wollte! Er hatte gerade ſo ſüß
geträumt, im Momente faſt die Wirklichkeit gänzlich ver-
geſſen; denn im Geiſte war er dort drüben geweſen auf
den fernen Bergen, die bläulich und roſenroth im Abend-
lichte ſchimmerten vor dem Abſchied des ſinkenden Tages!
 
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