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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 79- Nr. 87 (2. Oktober - 30. Oktober)
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Belletriſiihe Zeilage zur Heidelberger Beitung.

htidtlberger ganilien

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*

Ur. 79.

Samstag, den 2. October

1886.

Muſkbrief aus der Reſidenz.

Ueber Muſik zu ſchreiben, iſt jetzt eben noch nicht leicht.
Erſt mit dem Spätherbſt, wenn die Orcheſterconcerte und
Kammerſoiréen beginnen, die Virtuoſen von allen Wind-
roſen herbeikommen und die zahlreichen der Polyhymnia
huldigenden Vereine ihre Thätigkeit wieder aufnehmen, wenn
mit einem Wort der während der heißen Jahreszeit nur
ſpärlich rinnende Strom des muſikaliſchen Lebens zur Hoch-
fluth anſchwillt und in unaufhörlich kommenden und gehen-
den Wogen ſich ergießt, dann iſt für den Muſikberichterſtatter
die rechte Zeit gekommen. Bis dahin iſt ſein einziges Feld
das Theater. ö
Die Herbſt⸗ oder, beſſer geſagt, Sommer-Staggione —
denn die letztere Bezeichnung entſpricht durchaus der Wärme-
temperatur — begann mit Neßler's „Der Trompeter von
Säkkingen“. Von allen Opern der Neuzeit iſt keine ſo
ſchnell populär geworden, wie der Trompeter. Das hat
ſeinen guten Grund. Mag auch die herrliche, unvergäng-

liche Dichtung Scheffels nicht wenig zu der raſchen Popu-

larität der Oper beigetragen haben, die Haupturſache der-
ſelben liegt zweifelsohne in der volksthümlichen, Herz und
Geiſt erfriſchenden Muſik. Einen beſſeren muſikaliſchen
Interpreten hätte ſich Scheffel nicht wünſchen können, als
den ihm ſtamm⸗ und gemüthsverwandten Victor Neßler.
Was deſſen „Rattenfänger von Hameln“ (1879 componirt)
ſo ſchnell beliebt machte, die anſprechende, leicht faßliche
und doch ſo edle Melodik, findet ſich auch in ſeinem „Trom-
peter“ wieder, nur in noch höherem Grade. Den theils
innigen, theils launigen Ton, den der Wortdichter in ſeinem
Epos anſchlägt, hat der Tondichter vorzüglich getroffen,
beſonders in den lyriſchen Stellen. In kurzer Zeit ſind die
„Trompeterlieder“ Gemeingut des Volkes geworden, ein
Beweis, welch' ſtarken Widerhall die Muſik in Aller Herzen
gefunden. — Neßler's muſikaliſches Geſicht hat Aehnlichkeit

mit demjenigen Lortzing's. Beide ſind keine eigentlich epoche-

machenden Muſiker und ihre Arbeiten zeigen manchmal etwas
ſkizzenhaftes. Aber mit Lortzing's „Czar“ und „Waffen-
ſchmied“ wird Neßler's „Rattenfänger“ und „Trompeter“
auf der deutſchen Bühne ſeinen Platz behaupten, kraft des
in dieſen Werken enthaltenen, aus dem Boden des Volks-
thums entſproſſenen und darum wieder in's Volksgemüth
dringenden ſeelen⸗ und humorvollen Liedes. —
Ein Verdienſt hat ſich unſere Hoftheaterdirection er-
worben, weniger um Aufführung von Donizetti's „Regi-
mentstochter“, die ohne Bianchi nicht mehr recht munden
will, als vielmehr um Darſtellung des Roſſini'ſchen „Tell“.
Das reichſte Produkt des Hauptes der italieniſchen
Opernſchule des XIX. Jahrhunderts iſt merkwürdigerweiſe
ganz in der Art der franzö ſiſchen Operncomponiſten
geſchrieben. Zwei Dutzend Opern hatte der Großmeiſter
der neuern italieniſchen Oper bereits componirt, darunter
hervorragende Werke, wie der „Barbier“ und „Othello“,
da, gleichſam über Nacht, verwandelte der italieniſchſte aller
Italiener ſich in einen Franzoſen mit allen für einen ſolchen
charakteriſtiſchen Eigenſchaften, und gab der erſtaunten Welt
ſeinen „Tell'. Was den früheren Opern Roſſini's faſt

vollſtändig fehlt: Charakteriſtik und durchgeführte Indivi-

dualiſirung, lebendige und wahrheitsvolle Dramatik, Reich-
thum der Harmonien und Kunſt der Inſtrumentation, dies
Alles findet ſich in ſeinem „Wilhelm Tell“. Hatte der
Schwan von Peſaro durch dieſes Werk der muſikaliſchen
Welt eine großartige Ueberraſchung bereitet, ſo ſtieg dieſe
Ueberraſchung zum Gipfel, als der Meiſter gleich darauf
ſich zurückzog, um fortan noch faſt vierzig Jahre lang ein
Leben behaglicher Muße zu führen. Der Fall, daß ein
Künſtler in der Mitte ſeiner Laufbahn und auf dem Höhe-
punkt ſeines Ruhmes plötzlich allem Schaffen entſagt, iſt
bis jetzt ohne Beiſpiel in der Geſchichte der Muſik. Roſſini,

auf ſeinen Ruhm nicht minder wie auf materielle Erfolge

bedacht, wußte indeſſen, warum er ſeine Laufbahn als dra-
matiſcher Tonſetzer ſo unvermuthet ſchloß. Für ſeinen „Tell“
hatte er die ganze Kraft ſeiner künſtleriſchen Individua-
lität eingeſetzt; ein zweites Werk von derſelben Bedeutung
bermochte er nicht mehr zu ſchaffen, darum ſchuf er über-
haupt keines mehr. ö
Zur Feier des Geburtstags des Großherzogs wurde
Weber's „Oberon“ bei feſtlich erleuchtetem Hauſe gegeben.
Feerien zeichnen ſich gewöhnlich nicht durch beſonders hervor-
ragenden Kunſtwerth aus. Das kann indeſſen von We-
ber's romantiſcher Zauberoper nicht behauptet werden. Die
Dichtung freilich, die läßt Manches zu wünſchen übrig.
Schon die Anordnung des Stoffs iſt eine verfehlte. Statt
aus dem altfranzöſiſchen Gedicht „Huon de Bordeaux“
ein eigenthümlich geſtaltetes, in ſich geſchloſſenes drama-
tiſches Ganze zu bilden, hat der Textdichter in mechaniſcher
Weiſe die hauptſächlichſten Scenen des Wieland'ſchen Ge-
dichtes loſe aneinander gereiht. Da die Fülle des Stoffes
eine durchgehende muſikaliſche Darſtellung nicht ermöglichte,
mußte zur Fortführung der Handlung geſprochener Dialog
und eine Reihe raſch ſich aufrollender Bilder eingeſchoben
werden, wodurch nicht nur die Einheit des Stückes leidet,

ſondern die Muſik oft ſolchermaßen in den Hintergrund

gedrängt wird, wie es bei der Oper, die doch ein Muſik-
drama ſein ſoll, nicht zuläſſig iſt. Wenn Weber trotz des
mangelhaften Textbuches ſeiner Aufgabe in ſo unübertreff-
licher Weiſe gerecht wurde, ſo iſt dies nur ein Beweis für
die Größe ſeines Genius. Was von der dramatiſchen
Muſik verlangt werden kann, iſt im „Oberon“ enthalten:
die packendſte Charakteriſtik verbunden mit den fließendſten,
in Anmuth und Lieblichkeit getauchten Melodien und ſüßen,
zauberhaften Harmonien. Was in ſeinem „Freiſchütz“,
ſeiner „Prezioſa“ und ſeiner „Euryanthe“ entzückte, kehrt
in ſeinem „Oberon“, Weber's letztem Werke, wieder, oft-
mals in direkten Anklängen, aber viel verklärter. Das
Weben und Wehen der Elfen iſt ſo reizend und lebendig
gezeichnet, wie jemals zuvor, und iſt Weber's Weiſe Vor-
bild geworden für alle ſpäteren Schöpfungen derart, wie
aus dem Elfenreigen von Mendelsſohn's Sommernachts-
traum⸗Muſik deutlich zu erkennen iſt. Eines macht den
„Oberon“ noch ganz beſonders werthvoll, der Umſtand
nämlich, daß die Muſik auf Laien wie auf Kenner gleich
tiefgehend wirkt. Das einzige Seitenſtück in dieſer Rich-
tung dürfte Mozart's „Zauberflöte“ ſein, wie ja dieſe Oper
 
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