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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 44 - Nr. 52 (2. Juni - 30. Juni)
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Heidelberger Fanilieublätter.

„ Belletriſliſche Beilage zur Heidelberger Beitung.

Ir. 46.

Mittwoch, den 9. Juni

1886.

Zum Jindwurn.
Roman von B. Renz.
CFortſetzung.)

Herr Carſtens goß die Gläſer wieder voll und begann
zu erzählen: „Du weißt, daß ich lange in der Reſidenz
thätig war, in dem Geſchäft von Mandel & Comp. und
zwar als Prokuriſt der bedeutenden Firma. Ich wohnte
damals im zweiten Stock des Hauſes Blumenſtraße Nr. 12,
bei einer Frau Wenzel, die Zimmer waren groß und hübſch,

mein Geſchäft lag in der Nähe, und die Sauberkeit und

Aufmerkſamkeit der alten Wirthin gefielen mir. Als ich
eines Abends zu ihr hinüberging, um irgend etwas zu for-
dern, fand ich ein junges Mädchen bei ihr und erfuhr, daß
es die Tochter ſei. Dieſe, Antonie Wenzel, war eine bild-
hübſche Erſcheinung, liebenswürdig, von prachtvollem Wuchs
und angenehmen Manieren. Während des Tages arbeitete
ſie in einem großen Putzgeſchäft der Reſidenz und Abends
war ſie noch thätig zu Hauſe für Privatkunden und half
jedenfalls tüchtig verdienen. Auch einen Sohn beſaß die
alte Frau, wie ich ſpäter erfuhr, als wir bekannter gewor-
den waren; er hatte ſich bei irgend einer Gelegenheit den
Franzoſen verdächtig gemacht und um nicht das Schickſal
ſo vieler Unſchuldiger zu theilen, wir befanden uns im
Jahre 1813, war er nach Amerika entwichen. ö
„So wurde ich mit den Leuten nach und nach ver-
trauter; ſie fragten mich um Rath bei jeder Gelegenheit,
wir beſprachen die neueſten Ereigniſſe — die Schwere der
Zeit führte damals die Menſchen leicht zuſammen — und
ſo kam es, daß ich die Abende häufig in der Familie zu-
brachte, den beiden Frauen die Zeitung vorlas oder mit
der Tochter muſizirte. Als fleißiger Celloſpieler war ich
Mitglied eines muſikaliſchen Vereins geworden, welcher nicht
ſelten zum Beſten irgend eines wohlthätigen Zweckes öffent-
lich concertirte; dies bot mir Gelegenheit, den beiden Da-
men manchmal ein Vergnügen zu bereiten, indem ich ihnen
Billets zu den Vorſtellungen ſchenkte, ſpäter auch zum
Theater. Aber ich habe ſie nie dahin begleitet, obwohl

die Mutter Wenzel es nicht an deutlichen Winken fehlen

ließ. Allmälig fiel mir auf, daß das junge Mädchen
zurückhaltender, die alte Dame hingegen zuvorkommender,
ja ich möchte ſagen, zudringlich wurde. Meine Stube fand
ich nicht ſelten mit Blumen geſchmückt; Sonntags erhielt
ich regelmäßig Kuchen zum Kaffee, „eigenes Gebäck meiner
Tochter,“ wie ausdrücklich geſagt wurde, und an meinem
Geburtstage, den ſie, der Himmel weiß wie, erfahren hatten,
lag ein kleiner geſtickter Teppich vor meinem Secretär, den
ich als mein Eigenthum bettachten ſollte. — Ich kannte
die fortwährende Bedrängniß der Frau Wenzel, wie leicht
geriethen damals ſelbſt wohlhabende Leute in Verlegenheit
um den täglichen Groſchen, deſto peinlicher ward mir dieſe

Aufmerkſamkeit, die mich geradezu drängte, die Wohnung

aufzugeben, denn der Zweck dieſer Manöver der alten Frau
war nicht zu verkennen; anderſeits widerſtand es mir, zu
kündigen und auszuziehen, weil ich die Familie dadurch
möglicherweiſe in augenblickliche Noth verſetzt hätte.

pvermehrter Arbeitslaſt.

„Ich zog mich nun all mälig zurück unter dem Vorgeben
Aber während das Mädchen ein
volles Verſtändniß für mein Verhalten zu haben ſchien,
verfolgte mich die Mutter unverdroſſen mit ihren Beſuchen,
blieb wie eine Klette unverdroſſen in meiner Stube ſitzen,
erzählte von den Vorzügen ihrer Tochter, wie gern dieſe
mich habe, wie ſie immer nur von mir ſpreche, bis ich allen
Ernſtes beſchloß, das Haus zu verlaſſen. — Da erhielt
ich plötzlich die Nachricht von der ſchweren Erkrankung
meines Vaters, und mein lang genährter Wunſch, das Ge-
ſchäft hier im Lindwurm ſelbſtändig zu übernehmen, ward
mächtig angeregt, denn — ich liebte ja. Und ſo bat ich
die Firma Mandel & Comp. um meine Entlaſſung und
reiſte mit Extrapoſt nach Reicha, indem ich alle meine ge-
ringen Habſeligkeiten mit mir nahm. ö
„Ueber den Abſchied von Frau Wenzel und Tochter
laß mich ſchweigen; er geſtattete einen tiefen Blick in die
Pläne der Alten, aber auch in den anſtändigen Charakter
der Tochter, die, wie ich allerdings nicht zweifeln konnte,
mir ihr ganzes Herz geſchenkt hatte. Es war eine pein-
liche Scene, und nur dadurch für mich erträglich, daß mein
Gewiſſen mir abſolut keine Vorwürfe machen konnte. Um
den Eklat noch zu vervollſtändigen, rief mir beim Abfahren
die ſcharfe Stimme eines jungen Mädchens aus einem
Fenſter des Hochparterre höhniſch nach: „Wann iſt denn
die Hochzeit? O, das arme Thierchen “ ö
„Aber Lebrecht,“ ſagte der Juſtizrath während einer
Pauſe, „wie kann dir ein ſolcher Blödſinn noch jetzt die
Stimmung verderben ?“
„Warte das Ende ab,“ bat der Andere. „Was ſich
hier ereignete, weißt du; und ich wäre der glücklichſte
Menſch geblieben, hätte ich mein Weib behalten. Aber jene
nichtswürdige Brut heftete ſich an meine Sohlen und einer
der erſten Briefe, den meine Frau von ihrer Tante aus
der Reſidenz empfing, enthielt die Nachricht, daß, infolge
des Bekanntwerdens meiner Verheirathung, Frau Wittwe
Wenzel am Schlagfluß geſtorben und die unglückliche be-
trogene Tochter ſpurlos verſchwunden ſei, und daß meine
Frau nun wohl einſehen würde, wem ſie ſich anver-
traut habe! ö
„Das erſchütterte mich tief und ich habe, ohne das Ge-
ringſte zu verſchweigen, meiner Frau den ganzen Sach-
verhalt erzählt, und ſie hat mir geglaubt. Aber im Publi-
kum der Reſidenz, zumal in der Blumenſtraße und in
gewiſſen Kreiſen war der Schein wider mich, und ich mußte
mir ja ſelbſt ſagen, daß ich unvorſichtig gehandelt habe.
Ich hätte ſofort das Haus verlaſſen ſollen, als mir die
Abſichten der alten Wenzel klar wurden.“
„Und du haſt nie wieder etwas über das Mädchen ge-
hört?“ fragte der Juſtizrath geſpannt. ö
„Nie!“ war die Erwiderung. „Ich bin in der Reſi-
denz geweſen, um perſönlich Nachforſchungen anzuſtellen,
meine Frau hat mir treulich dabei geholfen und wir haben
kein Mittel unberſucht gelaſſen, Gewiſſes über das Schickſal
des Mädchens zu erfahren. In der Blumenſtraße Nr. 12
wußte man nichts und in die Parterrewohnung, von wo

man mir jenen Gruß nachgerufen hatte, mochte ich nicht
 
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