er Familien
42
lätter.
Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
Ur. 78.
1886.
Der Jänger von Salto.
Eine braſilianiſche Geſchichte von B. Riedel⸗Ahrens.
(Schluß.)
Er ſah den fragenden Blick, las halb die Worte von
ihren Lippen, halb errieth er ſie. „Ich kann es nicht
glauben, Marietta. Und wenn auch die Zweifel in dieſem
Augenblicke ſchwinden würden, um ſo lebendiger erwachten
ſie in der nächſten Stunde. Weißt du, das Geſpenſt des
Mitleids verfolgt mich überall, auf Schritt und Tritt, es
erwacht mit mir und legt ſich Abends zu mir auf mein
Lager. Ich muß ihm entfliehen, wenn ich nicht eine Beute
des Wahnſinns werden ſoll! Oft ſpüre ich einen ſo
dumpfen Druck in meinem Gehirn, heiß rieſelt das Blut
von den Schläfen nieder, es ſauſt und hämmert in meinem
armen Kopfe und dann entringt ſich meiner gequälten Bruſt
ein Schrei unbezwingbarer Sehnſucht nach der geliebten
Welt der Töne! Ich flehe: O Gott, erlöſe mich doch nur
von dieſer ſchauerlichen Einſamkeit, die tauſendmal ſchlimmer
als der Tod. Aber,“ fuhr Juca mit gebrochener Stimme
fort, „mir wird keine Erhörung, ich bete umſonſt; Gott
hat ſich von mir gewandt, ich bin ein Außgeſtoßener.“
„Nein, Juca, ſprich nicht ſo, trage demüthig das Dir
auferlegte Loos. Und bin ich denn nicht Dein, nach
wie vor 2“
„Kannſt Du es mir beweiſen, mich überzeugen, daß
dem ſo iſt?“ ö
Sie ſchüttelte den Kopf, hilflos angeſichts ſeines unbe-
ſiegbaren Mißtrauens. ö ö
„Ich will nun gehen, Marietta, ich habe Augenblicke,
da es mich übermächtig erfaßt und ich hinausſtürmen muß,
meinen Schmerz auszutoben. Lebewohl, vielleicht ſehen wir
uns wieder, vielleicht auch nicht, ich weiß nicht, wie mein
Schickſal es über mich verhängt haben mag!“
ö Er umarmte das Mädchen noch einmal, dann riß er
ſich gewaltſam los und verſchwand raſchen Schrittes nach
der Richtung hin, welche zu dem Saltofalle führte.
Marietta ſah ihm nach und ſtand eine Weile unent-
ſchloſſen auf dem verlaſſenen Platze, bald darauf begann
ſie, Juca in gewiſſer Entfernung zu folgen. Er näherte
ſich der Brücke, deren Neubau man infolge des Unfalles
Franciskos vor Kurzem in Angriff genommen hatte.
Es war menſchenleer an der Stelle, denn ſeit Juca
dort nicht mehr an ſternhellen Nächten ſeine Lieder ſang,
ging ein Jeder an der Unglücksſtätte raſch vorüber.
Der junge Fiſcher blieb an dem Orte ſtehen, wo früher
das hölzerne Geländer, welches jetzt weggeräumt worden,
geſtanden hatte. Wie es ſchon mehrere Male der Fall ge-
weſen, zog auch heute eine geheimnißvolle Macht ihn in
die Tiefe hinab, wo er Francisko aus der Bewußtloſigkeit
ins Leben zurückgerufen hatte. Es war ihm, als müſſe er
dort wiederfinden, was er verloren, die ihm untreu gewor-
denen Geiſter der Töne. ———
Er lauſchte angeſtrengt; würden ſie doch endlich kommen?
Vielleicht dort unten; wie er ſich ſehnte nach ihnen!
Mittwoch, den 29. September
Er ſchlug mit der geballten Fauſt gegen ſeine Stirn,
heißer Zorn und dann wieder tiefe Wehmuth ergriffen ihn,
er mochte mit dieſem Körper ohne Seele nicht länger auf
der Erde weilen, wohin er nicht mehr zu gehören ſchien.
Marietta, überlegte er weiter, würde ihn zweifellos bald
vergeſſen haben, ſobald er unter dem Saltofalle ein frühes
Grab gefunden, ſchließlich, meinte er in ſeiner Verbitterung,
würde ſie wohl gar heimlich froh ſein, ſich ſo wohlfeilen
Kaufes von ihm befreit zu ſehen, darum hinab! Aber,
wollte er wirklich ſterben dort unten? Juca war darüber
noch nicht ganz mit ſich im Klaren; er folgte in dieſer
Stunde mehr einem dunklen und doch gewaltigen Trieb,
von dem er ſich keine Rechenſchaft zu geben vermochte.
Es erſchien, als ob die Geiſter der Tiefe heute, um die
Zeit des Vollmonds, eine ganz beſondere räthſelhafte Macht
über ihn gewonnen. Hinab! Mit plötzlichem Entſchluß
erfaßte er die am Rande des Abgrundes wachſenden Pflanzen-
büſchel, glitt bis zum Vorſprung und kletterte von hier aus
tiefer und tiefer hinunter. — — — — — — — —
— — — — — — — — — — — — — — —
—
In dieſem Momente ertönte ein herzzerreißender Schrei,
voll Entſetzen und Todesangſt. ö
„Juca, was willſt Du thun!?“ erſchallte Mariettas
Stimme; gleich darauf ſtand ſie am Felſenabhang, an der-
ſelben Stelle, wo ihr Geliebter ſich noch kurz zuvor be-
funden. ö ö
Hier war er verſchwunden! Wollte er ſich tödten!
Sie ſtarrte irren Blickes, mit weitgeöffneten Augen rathlos
nach allen Seiten, es war Niemand in der Nähe, der hätte
helfen können. Sie war allein, und Juca in dem fuͤrchter-
lichen Abgrund vor ihr, vielleicht ſchon ſterbend! — „O
Gott!“ Sie richtete die gefalteten Hände nach oben und
verharrte dann einen Augenblick regungslos. Hundert wirre
Gedanken durchzogen pfeilgeſchwind ihr brennendes Hirn,
dazwiſchen aber drängte ſich nur eine einzige klare Empfin-
dung, — ſie wollte zu ihm. Gab es angeſichts ihrer Liebe
ein Hinderniß, welches ſie von dem Manne ihres Herzens
zu trennen vermochte? Er verlangte einen Beweis ihrer
Liebe, nun jetzt war der Zeitpunkt gekommen, da ſie ihn
bringen konnte! Aber, barmherziger Himmel, wenn Juca
nun nicht mehr lebte! Um ſo beſſer, dann durfte ſie doch
vereint mit ihm im Tode ſein. In ihren Augen leuchtete
es überirdiſch auf. Was konnte ihr die Welt noch ſein,
ohne den Geliebten? — — — — — — — — — —
Einige Sekunden ſpäter war der Platz, wo Marietta
ſoeben geſtanden, leer. — Die Waſſer des Saltofalles
brauſten weiter, die himmelanſtrebenden Palmen ſchaukelten
nach wie vor die zierlichen Kronen im lauen Abendwinde,
und über ihnen flimmerten die Sterne lächelnd wie zuvor
auf die einſame Erde nieder. — — — — — — — —
Juca hatte unterdeſſen die Felſenplatte erreicht, wo er
dazumal Francisko gefunden; er ließ ſich in ſitzender Stel-
lung, den Rücken gegen die Felswand gelehnt, auf den
Boden nieder und ſah gedankenvoll vor ſich hin. ö
Er wartete; ja, worauf denn eigentlich? Er ſtrich mit
der Hand über ſeine Stirn. War er doch hierher gekom-
men an dieſen ſchauerlichen Ort des Grauens, um zu
42
lätter.
Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.
Ur. 78.
1886.
Der Jänger von Salto.
Eine braſilianiſche Geſchichte von B. Riedel⸗Ahrens.
(Schluß.)
Er ſah den fragenden Blick, las halb die Worte von
ihren Lippen, halb errieth er ſie. „Ich kann es nicht
glauben, Marietta. Und wenn auch die Zweifel in dieſem
Augenblicke ſchwinden würden, um ſo lebendiger erwachten
ſie in der nächſten Stunde. Weißt du, das Geſpenſt des
Mitleids verfolgt mich überall, auf Schritt und Tritt, es
erwacht mit mir und legt ſich Abends zu mir auf mein
Lager. Ich muß ihm entfliehen, wenn ich nicht eine Beute
des Wahnſinns werden ſoll! Oft ſpüre ich einen ſo
dumpfen Druck in meinem Gehirn, heiß rieſelt das Blut
von den Schläfen nieder, es ſauſt und hämmert in meinem
armen Kopfe und dann entringt ſich meiner gequälten Bruſt
ein Schrei unbezwingbarer Sehnſucht nach der geliebten
Welt der Töne! Ich flehe: O Gott, erlöſe mich doch nur
von dieſer ſchauerlichen Einſamkeit, die tauſendmal ſchlimmer
als der Tod. Aber,“ fuhr Juca mit gebrochener Stimme
fort, „mir wird keine Erhörung, ich bete umſonſt; Gott
hat ſich von mir gewandt, ich bin ein Außgeſtoßener.“
„Nein, Juca, ſprich nicht ſo, trage demüthig das Dir
auferlegte Loos. Und bin ich denn nicht Dein, nach
wie vor 2“
„Kannſt Du es mir beweiſen, mich überzeugen, daß
dem ſo iſt?“ ö
Sie ſchüttelte den Kopf, hilflos angeſichts ſeines unbe-
ſiegbaren Mißtrauens. ö ö
„Ich will nun gehen, Marietta, ich habe Augenblicke,
da es mich übermächtig erfaßt und ich hinausſtürmen muß,
meinen Schmerz auszutoben. Lebewohl, vielleicht ſehen wir
uns wieder, vielleicht auch nicht, ich weiß nicht, wie mein
Schickſal es über mich verhängt haben mag!“
ö Er umarmte das Mädchen noch einmal, dann riß er
ſich gewaltſam los und verſchwand raſchen Schrittes nach
der Richtung hin, welche zu dem Saltofalle führte.
Marietta ſah ihm nach und ſtand eine Weile unent-
ſchloſſen auf dem verlaſſenen Platze, bald darauf begann
ſie, Juca in gewiſſer Entfernung zu folgen. Er näherte
ſich der Brücke, deren Neubau man infolge des Unfalles
Franciskos vor Kurzem in Angriff genommen hatte.
Es war menſchenleer an der Stelle, denn ſeit Juca
dort nicht mehr an ſternhellen Nächten ſeine Lieder ſang,
ging ein Jeder an der Unglücksſtätte raſch vorüber.
Der junge Fiſcher blieb an dem Orte ſtehen, wo früher
das hölzerne Geländer, welches jetzt weggeräumt worden,
geſtanden hatte. Wie es ſchon mehrere Male der Fall ge-
weſen, zog auch heute eine geheimnißvolle Macht ihn in
die Tiefe hinab, wo er Francisko aus der Bewußtloſigkeit
ins Leben zurückgerufen hatte. Es war ihm, als müſſe er
dort wiederfinden, was er verloren, die ihm untreu gewor-
denen Geiſter der Töne. ———
Er lauſchte angeſtrengt; würden ſie doch endlich kommen?
Vielleicht dort unten; wie er ſich ſehnte nach ihnen!
Mittwoch, den 29. September
Er ſchlug mit der geballten Fauſt gegen ſeine Stirn,
heißer Zorn und dann wieder tiefe Wehmuth ergriffen ihn,
er mochte mit dieſem Körper ohne Seele nicht länger auf
der Erde weilen, wohin er nicht mehr zu gehören ſchien.
Marietta, überlegte er weiter, würde ihn zweifellos bald
vergeſſen haben, ſobald er unter dem Saltofalle ein frühes
Grab gefunden, ſchließlich, meinte er in ſeiner Verbitterung,
würde ſie wohl gar heimlich froh ſein, ſich ſo wohlfeilen
Kaufes von ihm befreit zu ſehen, darum hinab! Aber,
wollte er wirklich ſterben dort unten? Juca war darüber
noch nicht ganz mit ſich im Klaren; er folgte in dieſer
Stunde mehr einem dunklen und doch gewaltigen Trieb,
von dem er ſich keine Rechenſchaft zu geben vermochte.
Es erſchien, als ob die Geiſter der Tiefe heute, um die
Zeit des Vollmonds, eine ganz beſondere räthſelhafte Macht
über ihn gewonnen. Hinab! Mit plötzlichem Entſchluß
erfaßte er die am Rande des Abgrundes wachſenden Pflanzen-
büſchel, glitt bis zum Vorſprung und kletterte von hier aus
tiefer und tiefer hinunter. — — — — — — — —
— — — — — — — — — — — — — — —
—
In dieſem Momente ertönte ein herzzerreißender Schrei,
voll Entſetzen und Todesangſt. ö
„Juca, was willſt Du thun!?“ erſchallte Mariettas
Stimme; gleich darauf ſtand ſie am Felſenabhang, an der-
ſelben Stelle, wo ihr Geliebter ſich noch kurz zuvor be-
funden. ö ö
Hier war er verſchwunden! Wollte er ſich tödten!
Sie ſtarrte irren Blickes, mit weitgeöffneten Augen rathlos
nach allen Seiten, es war Niemand in der Nähe, der hätte
helfen können. Sie war allein, und Juca in dem fuͤrchter-
lichen Abgrund vor ihr, vielleicht ſchon ſterbend! — „O
Gott!“ Sie richtete die gefalteten Hände nach oben und
verharrte dann einen Augenblick regungslos. Hundert wirre
Gedanken durchzogen pfeilgeſchwind ihr brennendes Hirn,
dazwiſchen aber drängte ſich nur eine einzige klare Empfin-
dung, — ſie wollte zu ihm. Gab es angeſichts ihrer Liebe
ein Hinderniß, welches ſie von dem Manne ihres Herzens
zu trennen vermochte? Er verlangte einen Beweis ihrer
Liebe, nun jetzt war der Zeitpunkt gekommen, da ſie ihn
bringen konnte! Aber, barmherziger Himmel, wenn Juca
nun nicht mehr lebte! Um ſo beſſer, dann durfte ſie doch
vereint mit ihm im Tode ſein. In ihren Augen leuchtete
es überirdiſch auf. Was konnte ihr die Welt noch ſein,
ohne den Geliebten? — — — — — — — — — —
Einige Sekunden ſpäter war der Platz, wo Marietta
ſoeben geſtanden, leer. — Die Waſſer des Saltofalles
brauſten weiter, die himmelanſtrebenden Palmen ſchaukelten
nach wie vor die zierlichen Kronen im lauen Abendwinde,
und über ihnen flimmerten die Sterne lächelnd wie zuvor
auf die einſame Erde nieder. — — — — — — — —
Juca hatte unterdeſſen die Felſenplatte erreicht, wo er
dazumal Francisko gefunden; er ließ ſich in ſitzender Stel-
lung, den Rücken gegen die Felswand gelehnt, auf den
Boden nieder und ſah gedankenvoll vor ſich hin. ö
Er wartete; ja, worauf denn eigentlich? Er ſtrich mit
der Hand über ſeine Stirn. War er doch hierher gekom-
men an dieſen ſchauerlichen Ort des Grauens, um zu