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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 44 - Nr. 52 (2. Juni - 30. Juni)
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kidelberger Familienblätter.

5 Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Ur. 45.

Samstag, den 5. Juni

1886.

IZun gindwurn.
Roman von B. Renz.

(Fortſetzung.)

Mehr aber als nach dieſen bunten Dingen verlangte
das Tochterherz nach lebendigeren Zeugen aus dem Leben
der Heimgegangenen, nach ſchriftlichen Notizen, Aufzeich-
nungen und dergleichen; ſie hatte noch nicht einmal die
Handſchrift der Verſtorbenen geſehen, — ob Billa wohl
ebenſo ſchrieb wie ſie? ö
Wiederholt hatte das Mädchen verſucht, einen kleinen
Schrank im Sekretär, ſowie ein darunter befindliches Schub-
fach zu öffnen, aber das Schloß mußte wohl in Unordnung
ſein, und eben wollte ſie die Sache aufgeben, ſo brennend
gern ſie auch den Inhalt dieſer Fächer kennen gelernt hätte,
als Chriſtel eintrat.
„Das ſind gar kurioſe Schlöſſer, gnädiges Fräulein,“
ſagte ſie, „welche davon ſchließen einmal und welche zwei-
mal, und dort bewahrte auch Frau Carſtens ihre beſten
Sachen auf. In dieſem Schränkchen muß ihr Schmuck
liegen; ich habe oft geſehen, wie ſie ihn herausnahm.“
„Aber Chriſtel, ich verſuche ſchon ſeit einer Viertelſtunde
— der Schlüſſel dreht ſich nicht weiter. —“
„Das wird ſo gemacht,“ belehrte die verſtändige
Dienerin, „es ſind Doppelſchlöſſer.“ Und in der That
ſprang jetzt die Thür des Schränkchens weit auf, und ver-

ſchiedene Etuis, den geſuchten Schmuck enthaltend, lagen

vor der jungen Erbin. Billa betrachtete ſtill die wirklich-
koſtbaren Gegenſtände und nur als ſie einen werthvollen

Perlenſchmuck in die Hand nahm, wendete ſie ſich nach dem

Bilde der Mutter und ſagte: „Der iſt's, Chriſtel.“ —
Dann verſchloß ſie die Schätze wieder, um die noch übrigen
Abtheilungen des Schreibtiſches zu öffnen, aber nirgend
fand ſie eine Zeile von der Hand der Verſtorbenen, oder
Spuren einer Correſpondenz.
„Merkwürdig,“ ſagte das junge Mädchen; wo iſt nur
ihre Schreibmappe? Jede Frau hat doch eine ſolche. Und
warum finde ich weder Briefe noch Rechnungen — — 2“
„Gnädiges Fräulein, ich meine gehört zu haben,“
erinnerte die Dienerin, „daß der Herr Vater alle Briefe,
überhaupt alles Schriftliche aus dieſem Sekretär an ſich
genommen hat, das Fräulein Tante wird es wiſſen.“
„O, da frage ich Vater ſelbſt. Aber nun wollen wir
die Schränke und Chiffonnièren im Schlafzimmer unter-
ſuchen; der Inhalt mag böſe ausſehen.“
Bald waren beide in Erſtaunen verſunken über den
Reichthum, den dieſe Möbel bargen und den die Zeit ver-
hältnißmäßig intakt gelaſſen hatte. Dennoch betrachtete
Billa das Ganze mit einer gewiſſen Eile und kehrte raſch
wieder in die Wohnſtube zurück, um abermals im Schreib-
tiſch zu ſuchen.
„Haben das gnädige Fräulein ſchon das Nähtiſchchen
revidirt?“ fragte Chriſtel endlich.
Raſch war der Schlüſſel gefunden und das zierliche
Möbel geöffnet. Da lagen die Handarbeiten der Ver-

ſtorbenen, ein angefangenes Kinderſtrümpfchen, ein Mützchen,
ein Häckelzeug, aber kein Stückchen Papier. Und wie ge-
ſchickt und ſauber war alles gearbeitee! Das Mädchen
nahm den kleinen Strumpf in die Hand, aber ein paar
heiße Thränen ließen es nicht klar erkennen. Wie traurig
redeten doch dieſe Dinge! ö
„Ach Fräulein,“ wagte die Dienerin endlich zu ſagen,
„ich bin überzeugt, die gnädige Frau hat ein Tagebuch
geführt: ich erinnere mich, daß ſie bei mehr als einer Ge-
legenheit zu mir ſagte: „Chriſtel, vergiß nicht, ich muß es
in mein Tagebuch ſchreiben!“ — Und ſollte das Buch nicht
irgendwo im Schreibtiſch liegen? Er iſt ja ſo groß und
hat vielleicht ein heimliches Fach.“
Ein Tagebuch! Ein heimliches Fach im Schreibtiſch!
„Laß mich allein, Chriſtel,“ bat das junge Mädchen,
„ſpäter wollen wir gemeinſchaftlich ſuchen, aber jetzt nicht;
Vater muß auch gleich zum Eſſen kommen. Geh, meine
gute Chriſtel!“ — Sie mußte allein ſein, ihr war das
Herz zu voll.
Als Herr Carſtens bald darauf nach Hauſe kam, mit-
theilſamer als gewöhnlich, wagte Billa ihn zu fragen, ob
er der Mutter Briefe an ſich genommen habe?
„Ja, mein Kind; ich ſagte es dir ja gleich, als ich dir
die Zimmer verſprach.“
„Und haſt du ſonſt etwas herausgenommen, Vater 2“
„Einige Packete mit Briefen, die du aber noch lange
nicht zu leſen brauchſt, und ein Ausgabebuch, Kind,“ er-
widerte der alte Mann, „weiter nichts.“
„Lieber Vater,“ bat ſie ſchmeichelnd, „ich möchte von
jetzt an die Rechnungen für den Hausſtand führen, oder
doch führen lernen; haſt du etwas dawider 2“
„Nein, Billa,“ erwiderte er herzlicher als je und legte
den Arm um die ſchlanke Geſtalt; Tante Roſe ſoll dich
unterweiſen in den Geheimniſſen der Wirthſchaft; es iſt dir
überhaupt dienlich, wenn du dich einer beſtimmten Beſchäf-
tigung widmeſt..
„Dann gib mir Mutters Rechnungsbuch, lieber Vater,“
ſchmeichelte ſie. Und er nickte, „das ſollſt du haben, aber
nun komm zu Tiſche.“
XII

Der October hatte ſich verabſchiedet mit Stürmen und
Schlackenwetter, aber auch mit allerlei Ereigniſſen, welche
die guten Bewohner der Stadt Reicha noch lange beſchäf-
tigen ſollten, und der November hatte ſeinen Einzug ge-
halten in derſelben unliebenswürdigen Weiſe.
Am zwanzigſten October waren die Rekruten eingerückt
unter Begleitung einer zahlreichen Schuljugend, und vier
Tage vorher war der Herr General in Reicha erſchienen
und hatte die Garniſonanſtalten beſichtigt in Begleitung
eines Schweifes von Offizieren, Zahlmeiſtern und ſtädtiſchen
Beamten, hatte alles gut und zweckmäßig befunden, ſodann
dem Herrn Bürgermeiſter und dem Landrath einen Beſuch
gemacht und Mittags im Hirſch, im neu decorirten Saale
der Offiziersſpeiſeanſtalt das Diner eingenommen. Alles
zur höchſten Zufriedenheit, welche ſich bis auf die Speiſen
erſtreckte, vor dem Weine aber Kehrt machte, denn Hotel-

weine, — nun, die kennt man in ganz Deutſchland.
 
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