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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 18 - Nr. 26 (3. März - 31. März)
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Heidelber

er Familienblätter.

„ Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeikung.

Ur. 22.

Mittwoch, den 17. März

1886.

Eitik.
Novelle von Hertha von Polenz.
(Fortſetzung.)

Unter den Linden vor Eiriks Fenſter ſchwatzten und
lachten die Mädchen, und auch das jüngſte Zwillingsbuben-
paar ſchnatterte luſtig dazwiſchen.
Wie waren dieſe Kinder ſo heiter und glücklich!
Eirik dachte daran, wie eintönig und einſam ſeine Kind-
heit geweſen. Er meinte, ſein Vater, Gott, das Schickſal
habe viel an ihm verſchuldet, unſäglich viel. Ach, warum
war er nicht geſtorben mit ſeiner Mutter Marucina, oder
an ihrer Statt? Um ſeinetwillen mußte ſie am Leben
bleiben.
Dann wäre die blonde Hanna niemals ſeines Vaters
Weib geworden. Er aber hätte ſich aufgemacht und hätte
ſie geſucht — geſucht ein ganzes Menſchenleben lang in
allen Landen, geſucht — und gefunden.
So aber ſaß er da im fremden Lande unter fremden
frohen Menſchen, ein Heimathsverwieſener; verwieſen und
verbannt auf ewig von ihr, die er liebte, von ihr, die
ihn — —
Es gibt Gedanken ſo entſetzlich qualvoll, ſo ſinnver-
wirrend ſüß, daß ſie ein ſchwaches Menſchenherze nicht er-
tragen kann.
Wieder jauchzten die Knaben und die Mädchen lachten.
Sie ſpielten Fangens. Doris lief eben quer über den
Raſenplatz, die Buben polterten und tobten hinterdrein,
einer den andern im Laufe hemmend. Lisbeth lehnte er-
ſchöpft im Ruheport am Thürpfoſten.
Die Schweſtern glichen einander kaum.
Die vierzehnjährige Doris war klug und lebhaft, dabei
klein und zierlich, gleich gewandt mit Zunge und Gliedern.
Der Schelm lauerte in ihren dunkelbraunen Augen und
tiefen Wangengrübchen.
ſchweigſamen Vetter eine kurze Antwort, zuweilen ſogar ein
flüchtiges Lächeln abzulocken. Das Herz der Mutter und
der Verſtand des Vaters waren ihr Erbtheil.
Anders Lisbeth, die ſechzehnjährige. ö
Sie war von Jugend auf ein ſeltſames Kind geweſen,
ſtill in ſich gekehrt, ſchüchtern und hilflos. Langſam nur
erlernte ſie leſen und ſchreiben. Mitunter aber that ſie

Fragen, die ſchwer oder gar nicht zu beantworten waren

und alle Welt in Staunen ſetzten. ö
Aus einem kleinen kränklichen Kinde hatte ſie ſich in
den letzten Jahren zu einer ſchlanken Jungfrau entwickelt,
die ſogar den Vater um halbe Kopfeslänge überragte.
Dennoch lag noch immer ein gewiſſer Zwang auf ihrem
ganzen Weſen, wie das Deckblatt auf der Knoſpe, die ſich
der völligen Entfaltung entgegenſehnt. ö
ö Mit großen graublauen Augen ſchaute ſie träumeriſch
in die Weite. Schwarze Wimpern und Brauen ſtachen
eigenartig gegen den Schnee der Schläfe, das fahle Blond
der üppigen Zöpfe ab. Viele meinten, ſie gliche Hanna,
deren Pathe und Liebling ſie geweſen. ——

Sie allein vermochte es, dem.

Eirik hatte ſie darauf noch keinmal angeſehen. —
Eines Abends, als Eirik zeitiger als ſonſt ſein Zimmer
aufſuchte, kam das Geſpräch der andern auf ihn. Martha
ſagte, er gliche ſeinem Vater, den ſie nur flüchtig an Hannas
Hochzeit geſehen. Der ſei auch mächtig groß und ſtattlich,
ſchweigſam und ernſt geweſen, aber Eirik wäre ſchöner und
weicher. Südlich heißes Blut, von der Mutter ererbt,
paare ſich in ihm ſeltſam mit der Ruhe und Kälte des
Nordens; möglich, daß ihn dieſer fortwährende Zwieſpalt,
dieſes ewige Uneins in ſich ſelber ſo ſchwermüthig gemacht.
Man müßte ihm aber gut ſein, meinte ſie zuletzt.
Doris ſtimmte ihr munter bei, Lisbeth ſenkte ſich tiefer
auf die Arbeit, der Vater aber ſagte: Alles habe ſeine
Grenzen, und ECirik ſtehle dem lieben Herrgott die Tage ab.
„Das iſt ja ein nutzloſes Herumſtehen, Gehen und
Träumen ohne Sinn und Zweck! Rechtſchaffen traurig
kann ſchon Einer ſein, der Grund dazu hat, aber dergleichen
iſt Narrheit und Unfug. ͤ
„Meinetwegen mag er weder reden noch lachen, wenn
er's ſelber aushält, aber arbeiten muß der Menſch.
Arbeiten! Das iſt das beſte Mittel gegen Kummer und
Trübſinn. Eirik wäre nicht der erſte, der am Faulenzen
und Grillenfangen ſchließlich zu Grunde ginge.
„Wenn du's nicht thuſt, Martha, ſo werde ich dem
jungen Menſchen einmal ins Gewiſſen reden. Er hat gute
Anlagen und ſchöne Güter droben in Norwegen. Aus bei-
den kann nichts Rechtes werden, wenn er ſo fortfährt.
„Und damit Punktum und gute Nacht!“ —
Deſſelbigen Nachts ſtieg ein Wunſch, halb eingeſtanden,
halb zurückgedrängt, in Marthas Mutterherzen auf und
verſcheuchte ihren Schlummer. Ihrer Schweſter Stiefſohn
war ſchön, reich und von Herzen gut, nur ſchwermuthsvoll
und trübe.
Sie dachte an die Zukunft — an Doris und Eirik.
Wenn irgend einem, ſo mußte es dieſer gelingen, ihn auf-
zuheitern. ö
Lisbeth aber drückte im dunklen Kämmerlein droben die
Hände auf Herz und Geſicht. Das Deckblatt um die
Knoſpe ihres Kinderherzens hatte ſich plötzlich gelöſt. Unter
Wonneſchauern und unausſprechlichem Bangen war ſie zur
duft⸗und farbenreichen Blume erblüht.
Und noch ein drittes ruhte auf ſchlafloſem Lager: Eirik.
Er rang die Hände und wollte beten, aber ſeine blaſſen
Lippen ſtammelten nur immer wieder: „Mutter, Mutter!“
ͤ 4* *
E

Briefe waren angekommen, einer davon für CEirik.
Der hatte ihn ſchweigend empfangen und auf ſein
Zimmer getragen. Dort verriegelte er langſam und ſorg-

fältig Fenſter und Thüren, dann aber ſank er in die Knie

und bedeckte Papier und Schriftzüge mit tauſend Thränen
und Küſſen. ö ö
Hanna ſchriebbz —
„Möchteſt du deiner einſamen Mutter eine große Freude
und Zerſtreuung bereiten, mein Eirik, ſo ſchreibe ihr bald

einmal, daß es dir und den Lieben all in Deutſchland

wohl geht. Ich denke immer an Euch. —
 
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