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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 96 - Nr. 104 (1. Dezember - 29. Dezember)
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Briaberder Ler

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Ur. 104.

Mittwoch, den

29. December 1886.

Ein Opferlamm.
Novellette von A. W. Gellrich.
Schluß.)

In den Augen des jungen Ehepaares hatte mittlerweile
der Charakter der Landſchaft um ſie herum, in die das
Leben ſie gebannt hielt, einen ganz anderen Ausdruck ge-
wonnen. Nichts mehr von dieſer kahlen Eintönigkeit, von
der freudloſen Leere, die ſie ſonſt empfunden hatten! Alles
ſchien ihnen jetzt ſonniger, warmer, belebter. Es war das
eben der Widerſchein ihrer eigenen Seelenſtimmung, die ſo-
viel wärmer und freudiger geworden war. Das frühere
rückſichtsvolle, behutſame, aber halb ſcheue Umſichherum-
gehen, unter dem Gefühl eines Unausgeſprochenen, was
zwiſchen ihnen ſtand — es war verſchwunden und hatte
einer freieren und froheren arbeitsfriſchen Verkehrsweiſe
Platz gemacht.
ſprächen, als ſie ſonſt gethan. —
Und doch blieb jetzt viel weniger Zeit und Gelegenheit
zu ausgedehnten Koſeſtunden wie früher! Der alte Ver-
walter lag krank und Fedor mußte alle Sorgen und Ge-
ſchäfte allein übernehmen. Aber er that es gern und war
mit Leib und Seele bei der Sache. Wenn er manches
Mal, nachdem er ſchon ſtundenlang draußen thätig geweſen
war, zum Frühſtück zurückkehrte, dann ſtrahlte Fränzchens
Auge heller, wenn ſie ſein braun gewordenes Geſicht be-
trachtete, auf dem mitunter helle Schweißtropfen ſtanden.
Die ungewohnte Mühſal, der Fedor ſich jetzt unterzog,
machte ſein Weſen keineswegs rauher, ſchroffer, vielmehr
hatte er an Ritterlichkeit und zarter Rückſicht gegen ſeine
Gattin gewonnen. Waren doch beide Eigenſchaften, die
ihn ſonſt auszeichneten, unter dem Gefühl ſeines ſchwäch-
lichen Sichgehenlaſſens ſo lange wie mit einem Schleier
bedeckt geweſen ... ö
Eines Sonntagsnachmittags ſaßen die beiden traulich
zuſammen im angenehm erwärmten Wohnzimmer, während
draußen der oſtpreußiſche Winter ſtürmte. Da ſagte Fran-
ziska zu ihrem Gatten: ö
„Ich habe Dir eine Nachricht zu geben, die Dir gewiß
recht unangenehm ſein wird. Darf ich es Dir ſagen?“
„Her damit,“ erwiderte dieſer munter, „dergleichen muß
friſch genoſſen werden, ſonſt ſchwillt es und wird größer
und ſchwerer; ich weiß das aus Erfahrung.“
»Denke Dir,“ begann Franziska, „mein Onkel, den
einmal zu beerben ich ſo natürliche Ausſicht hatte, da er
ein ganz allein ſtehender, fünfundſechszigjähriger Jung-
geſelle iſt, hat ſich unglaublicher Weiſe verheirathet. Mit
der Erbſchaft iſt es alſo nichts.“ ,
„Iſt das die ganze Schreckenskunde?“ fragte Fedor,
ohne ſich in ſeiner guten Laune durch dieſelbe im geringſten
ſtören zu laſſen.
dadurch bin, daß ich Dich habe, macht mir dergleichen
keinen Kummer mehr!“ Er ſagte es mit einem zärtlichen
Aufblick zu ſeiner tapferen Gefährtin. „Meinen Segen hat
der Onkel. Möge er ſeine ſilberne Hochzeit in fünfund-

gleich noch mit einer Bitte.

Es ſchien beiden ſogar, als ob ſie lauter

„Seit ich weiß, wie ungeheuer reich ich

zwanzig Jahren ſo vergnügt feiern, wie wir hoffentlich

unſere feiern werden.“
„Du biſt doch ein lieber Mann!“ rief Franziska freu-
dig, „und da Dich das nicht geſtört hat, ſo komme ich
Sieh hier, ich habe geſtern
Abend, als Du über Deiner Zeitung eingeſchlafen warſt,
an Mama geſchrieben. Möchteſt Du nicht ein paar Zeilen
zufügen, damit ſie ſieht, daß Du ihr nicht mehr böſe biſt?
Es würde ſie ſo freuen.“ Sie blickte ſchmeichelnd zu
ihm auf.
„Alles, was Du willſt, liebes Herz,“ ſagte Fedor und
nahm den Brief, den er laut las: ö
„Liebe Mama! ö
Ich wünſchte, ich könnte in dieſe Zeilen alle die
Herzensfreudigkeit ausſtrömen laſſen, die mich, die uns
beide erfüllt! Unſer Leben hier, wo es uns anfangs
ſo traurig erſchien, iſt jetzt ein ſo anderes, daß ich die
Veränderung ſelbſt kaum verſtehe, und heute hatten wir
einen beſonders glücklichen Tag. Du ahnſt gewiß nicht,
wie der bei uns ausſieht. Du meinſt ſicher, da hätten
wir recht lange beiſammen geſeſſen und uns geherzt und
geküßt, und deßhalb ſei er mir ſo erſchienen. So war
es aber gar nicht! Wir ſaßen allerdings zuſammen,
und da brachte ich eine Mappe hervor und aus dieſer
zog ich einen großen Bogen Papier. Darauf hatte ich
in aller Stille ſo eine Art Ueberſicht über unſere Ver-
hältniſſe aufgeſtellt und das ging ich nun mit Fedor
durch. Da waren unſere Schulden, unſere Hypotheken,
unſere Zinszahlungen u. dergl. Da war, was wir dem-
nächſt für Verbeſſerungen ausgeben müſſen, kurz alles
das, und wir rechneten und kamen zu dem Schluß, daß
es gerade ſo ausreichte. Daß wir unſere Zinſen be-
zahlen könnten und daß wir auch die andern Gläubiger,
denen wir Abzahlungen machen, zu denen ſich dieſelben
durch meine Diplomatie ſchriftlich verſtanden haben, ſo
befriedigen können, daß uns keiner derſelben etwas an-
haben kann. Nach und nach werden wir ſie alle los
werden, einen nach dem andern. Kurz, es bleibt uns
ſoviel, daß wir mit Ehren beſtehen können! — Dabei
haben wir die Gewißheit, daß wir wieder auf eigenem,
feſtem, ſolidem Boden ſtehen! —
„Was das für uns, für unſer Bewußtſein bedeutet,
kannſt Du kaum ermeſſen! Die ganze Zeit über, die
wir hier leben, ſchwebten wir ſo zu ſagen in der Luft.
Aber wie haben wir auch gearbeitet und ſind wir ſpar-
ſam geweſen, um es dahin zu bringen, wo wir heute
ſtehen! Wenn ich Dir ſagte, wie lächerlich wenig ich
ſeit Jahren für Toilette und was dazu gehört, ausge-
geben habe, ſelbſt Du würdeſt lächeln müſſen. Freilich
habe ich hier und bei unſerer bisherigen Lebensweiſe
auch ſo gut wie nichts gebraucht. Ein wenig wird ſich
das nun ändern. Heute über acht Tage haben wir
wieder die erſte Geſellſchaft; keine große, prunkhafte
etwa, ſondern nur einige Nachbarfamilien u. dergl.,
meiſtens Leute, deren Gefälligkeit und Bravheit wir zu
prüfen in der Lage geweſen ſind, und auf die wir da-
her große Stücke halten. Und wenn ſie alle zuſammen
 
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