Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Heidelberger Familienblätter — 1886

DOI Kapitel:
Nr. 10 - Nr. 17 (3. Februar - 27. Febraur)
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.53862#0061

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
kidelberger anilienblütter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Ur. 15. ö

Samstag, den 20. Februar

1886.

Die Fräulein von Paalen.
Rovelle von E. von Wald⸗Zedtwitz.
(Fortſetzung.)

Die Schulen hatten noch nicht wieder begonnen, wer

dachte in dieſer Zeit daran, der Schrecken hatte noch alle
Thätigkeit lahm gelegt. Karl hatte Zeit in Hülle und
Fülle, er lief zum Strande und umfaßte den Nußbaum.
Seine Thränen waren verſiegt, der Vorrath davon war
erſchöpft. Eben ſtand er wieder ſo da, er achtete nicht des
Schlammes und Sumpfes, der ihm bis an die Knie reichte,
ſondern ſtarrte hinaus auf die Bucht, die ihm alles ver-
ſchlungen. Da faßte ihn eine kräftige Hand an den
Schultern. Er ſah ſich um und erblickte Herrn von Paalen.
Der Kaufherr hatte hohe Waſſerſtiefel an und wanderte
durch das Städtchen, um ſich perſönlich zu überzengen, wo
ſeine eigne Hilfe am nothwendigſten ſei und wie man die
reichlich fließenden Liebesgaben ſachgemäß vertheile.
„Ei, da finde ich dich ja, mein armer Schelm,“ wandte
er ſich freundlich zu dem Knaben, ſo freundlich, daß Karl
die Thränen jetzt plötzlich in die Augen traten.
„Du haſt beim Fiſcher Notzen Unterkunft gefunden?“
Der Burſche nickte zuſtimmend. ö ö
„Notzen hat kaum für ſich zu leben, durch Arbeit kannſt
du dir dein Brod noch nicht ſelbſt verdienen, und meine
beiden Mädchen haben ſich immer einen Bruder gewünſcht,
komm, Karl, mache deinen Freundinnen die Freude und
werde ibr Bruder.“ ö

Herrn von Paalens Stimme hatte vor Rührung ein

wenig gezittert, doch ihm wurden die Augen feucht, als er
ſah, wie es wie Sonnenſchein über das Geſicht des armen
Waiſen zog. Karl konnte nicht ſprechen, er ſchluchzte und
weinte, weinte und ſchluchzte, und ſittſam an der Hand des
gütigen Herrn verließ er den Nußbaum, die Stätte ſeiner
Geburt.
alten, lieben aber verödeten heimiſchen Welt in eine neue —
eine andere, die ihm nicht unbekannt war, die er ſchon

längſt geliebt. Es war ein Jubel im Hauſe Paalen unter

der Kinderwelt, als der neue Bruder einzog. Marlitta
wollte ihm durchaus ihr Bett einräumen, die Mutter hatte

Noth, ſie davon abzubringen, und Marlene meinte, es ſei

viel hübſcher, daß nun gleich ein großer Bruder käme,
mit dem ſie ordentlich ſpielen könnten, als wenn der Storch,
wie ſie ſich's ſchon ſo oft gewünſcht, einen ganz kleinen
gebracht hätte, am allerſchönſten ſei es aber doch, daß dies
Brüderchen nun gerade Karl Janſens ſei. — So kam
Karl Janſens in das Haus von Paalens, es ging ihm
gut hier, er wurde wirklich wie ein ordentlicher Bruder und
wie ein leiblicher Sohn gehalten. Herr von Paalen war
ein Ehrenmann, und ſeine Gattin ein gutes, braves, her-
ziges Weib, der die Biederkeit und die Herzenstreue auf
der Stirn geſchrieben ſtand.
* K

Nun war der Herbſt da.

Die gütige Hand führte ihn hinaus aus einer

Nun war der Es iſt erſtaunlich, wie ſchnell
oft die Menſchen die Spuren der Verwüſtung verwiſchen,

welche große Naturereigniſſe zurücklaſſen. Auch hier ging
es ſo, ſo viele Hände hatten hier faſt noch nie mit ſolch
anhaltender Thätigkeit, mit ſo großem Fleiße gearbeitet, als
eben jetzt.
Man baute, grub, zimmerte, reinigte, putzte, ſtrich,
pflanzte und beſſerte aus, und ſiehe da, ehe der Winter
kam, war beinahe ein neues Städtchen aufgewachſen. Die
Stelle, wo Janſens' Hütte geſtanden hatte, verkaufte Herr
von Paalen und legte das Geld dafür für ſeinen Pflege-
ſohn zurück, aber eine Bedingung hatte er daran geknüpft,
der Nußbaumſtumpf ſollte ſo lange nicht umgehauen werden,
bis man ſich davon überzeugte, ob er wieder ausſchlage
oder nicht. Karl ſollte ein Wahrzeichen haben, wo das
Häuschen ſeiner Eltern ſich erhoben hatte. Auch Herr von
Paalen beſſerte die Schäden aus, welche die Sturmfluth
an ſeinem Grundſtück angerichtet hatte, er ließ den Hügel
nach der Straße zu ſchräg abſtechen und durch eine ſtarke
Mauer verblenden, dann wurde der Sand, den die Wellen
in das Gärtchen geworfen hatten, fortgefahren, neue
Pflanzungen mußten angelegt werden, denn die jungen
Bäumchen und Blumen waren abgeknickt oder fortgeriſſen
worden. Um die nöthigen Einkäufe zu machen, fuhr er
nach Hamburg, nach einigen Tagen kehrte er mit einem
Gärtner zurück, der all die koſtbaren Schätze mit ſich führte.
„Hübſch ſoll unſer Gärtchen werden, Mutter,“ ſagte
Herr von Paalen, als er ihr die mitgebrachten Pflaͤnzen zeigte.
„Und hier, das ſoll an das Haus, nach und nach muß
es grün überſponnen ſein, nur die Fenſter bleiben frei,
dann ſchaut mein Weib und die Kinder heraus, wie blühende
Roſen aus einem Blätterſtrauß.“ Die Kinder jubelten bei
dem Gedanken und ſtaunten die Pflanzen an, die ſolche
Wunderdinge hervorbringen ſollten. Kletternde Roſen waren
es, hier im Norden noch gar nicht bekannt. Zwei Stämm-
chen brachte Herr von Paalen mit, für Marlitta einen und
einen für Marlene.
„Nun, und was bekommt Karl Janſens?“ fragte die
erſtere. Die Roſen waren theuer geweſen, Herr von Paalen
hatte nur zwei Stöcke gekauft, im Anfange durchaus nicht
in der Abſicht, den Mädchen dafür ein Geſchenk zu machen.
Die Frage brachte ihn augenſcheinlich in Verlegenheit.
„Er bekommt eines der Obſtbäumchen hier.“
Marlitta war damit nicht zufrieden. Karl ſollte ſich
auch mit am Hauſe emporranken, wie ſie meinte. ö
„Ich weiß es, ich weiß es!“ rief ſie endlich heiter und
zog Karl und Marlene mit ſich fort. Hinaus ging's in's
Freie, das Dörfchen lag längſt hinter ihnen, auch das Ge-
hölz war ſchon durchſchritten, nun kamen ſie dahin, wo die
ſaftigen Wieſen wie grüne Teppiche das ſanft gewellte
Hügelland bekleiden. Die Knicks, aus Erde aufgeworfen
und mit Buſchwerk beſtanden, theilten ſie in einzelne Koppeln,
auf denen prächtiges Vieh ſich gütlich that. Dieſe Koppeln.
bildeten nächſt dem Strande den Lieblingsaufenthalt der
Kinder, hier jagten ſie ſich und ſpielten die ſchönſten Spiele.
Zu einem Knick, der die Koppel des Bürgermeiſters Stak-
fleth umzäunte, führte Marlitta ihren Bruder, lächelnd zeigte
ſie auf eine Geißblattrebe, die die Haſelſtauden und
Birken umſchlang.
 
Annotationen