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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 27 - Nr. 34 (3. April - 28. April)
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kidelberger Fanilienblütter.

Belletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Seitung.

Ur. 34.

Mittwoch, den 28. April

1886.

Zun Lindwurn.

Roman von B. Renz.

(Fortſetzung.)

„Wie freue ich mich darüber!“ rief der joviale alte
Herr in vortrefflicher Weinlaune. „Nochmals herzlich will-
kommen! Und nun lege ich Ihnen die Verpflichtung auf,
mich recht oft zu beſuchen. Ich lebe ganz einſam mit meiner
Alten ſeit der Verheirathung unſerer Tochter, habe eine
große Parterrewohnung im eigenen Hauſe mit prächtigem
Garten daran und bin gern fröhlich mit der Jugend; ein
guter Wein ſteht Ihnen auch zur Verfügung, und zwar aus
den Kellern des Lindwurms. —
„Aber ſagen Sie mir, wie konnte Ihr Freund den
Carſtens ſo provociren? Der verträgt keinen Spaß, am
wenigſten von Jemand, der den Namen „Fliſſen“ führt.“
„Es müſſen entſchieden ganz beſondere Beziehungen ob-
walten, die das Geſpräch ſo zuſpitzten,“ bemerkte Lieutenant
Olberg, „der alte Herr wurde ja auf einmal wie ein
Sprühteufel. — Aber was hat ihm der „Name Fliſſen“
gethan?“ ö ö
„Das wiſſen Sie nicht?“ fragte der Juſtizrath. „Nein?
— Ihres Freundes Eltern wohnten vor vielen Jahren hier
im Lindwurm, und aus dieſer Zeit rührt der tiefe Haß
des alten Mannes, den er bei ſeiner Verbiſſenheit auch auf
den Sohn zu übertragen ſcheint.“
„Aber“, ſagte Olberg erregt, „der Sohn muß doch nicht
büßen für die Handlungen der Eltern, wenn dieſe über-
haupt ein Unrecht begangen haben? Und dazu kommt
noch — Fliſſen liebt die Tochter und ſie liebt ihn — —“
Der Juſtizrath ſchüttelte ſtumm den Kopf, dann ſagte
er halblaut: „Alſo doch — ich habe es faſt vermuthet;
aber es macht mich beſorgt um die Ruhe des alten Carſtens,
die er kaum wiedergefunden hat im Laufe vieler Jahre,
beſorgt um die jungen Leute, denn dieſe Neigung iſt gänz-
lich hoffnungslos, — Carſtens gibt nimmermehr eine Ver-
bindung zwiſchen ihnen zu.“
„Das verſtehe ich nicht!“ rief der Offizier beinahe
überlaut, ſo daß ſein Nachbar ihm Vorſicht empfahl.
„Fliſſen iſt ein ehrlicher Kerl und kein falſches Haar an
ihm, wenn auch mal beim Glaſe Wein die Zunge mit ihm
durchgeht. Er wird ſeine Karriere machen, und außer-
dem — wenn ſich doch beide lieb haben?“
„Verlaſſen Sie ſich darauf,“ unterbrach der Juſtizrath
die beinahe zu laute Replik, „ich kenne meinen alten Freund

und ſeinen nicht unbegründeten Haß ganz genau; es liegen

tödtliche Beleidigungen zwiſchen ihnen.“
„Und können Sie gar nichts zum Beſten meines
Freundes thun, Herr Juſtizrath? Mein Vater will ihm
ſehr wohl —“
„Ich bezweifle es; — wenigſtens für jetzt nicht,“
verſetzte der alte Herr. „Aber eins rathen Sie ihm dringend
— wenn er überhaupt das Mädchen nicht aufgeben will,
ſo muß er dem Vater vollſtändig aus dem Wege gehen
und auch den Lindwurm meiden. Das geringſte Ereigniß

kann dazu beitragen, die Kluft noch zu erweitern. Vielleicht
habe ich bald einmal Gelegenheit, den jungen Mann zu
ſprechen; er ſcheint ſo ganz harmlos hineingetappt zu ſein
und gar nichts von den Verhältniſſen zu wiſſen, die ich
eben berührte.“
„Da kommt Fliſſen,“ bemerkte Olberg leiſe.
„Heute nicht, keinenfalls,“ flüſterte der Juſtizrath, „heute
laſſen wir ihn gehen, aber — in einigen Tagen ſuchen Sie
uns zuſammenzubringen, ſo ganz zufällig.“
Herr Stadtrath Carſtens wanderte unterdeß mit raſchen
Schritten dem Steinthore zu. Er mußte allein ſein, das
alte Leid war mächtig in ihm lebendig geworden. — Schon
Vormittags hatte er Wein trinken müſſen, zum Diner aber-
mals, dann kam Sekt, endlich die Bowle, ohne welche ein
regelrechtes Offizierdiner einmal nicht beſtehen kann; genug,
Herr Carſtens war ſehr erregt, erregt durch das Getränk,
aber noch tauſendmal mehr durch das Auftreten des jungen
Offiziers, welcher einen Namen trug, der alles in ſich ver-
einte, was jes für den alten Mann Haſſenswerthes und
Schändliches in der Welt gab. Und nun ſtieg ihm wieder
ein Verdacht gegen ſein Kind auf, und je mehr er grübelte,
deſto rieſenhafter wuchs ſein Mißtrauen. Sollte Billa trotz
aller väterlichen Warnungen dennoch einen Verkehr mit ihm
unterhalten haben? — Er erinnerte ſich plötzlich der un-
verhohlenen Freude, mit der das Kind die Nachricht von
der Verlegung eines Bataillons nach Reicha aufgenommen
hatte, des Forſchens nach dem Namen des Truppentheils,
ihrer Abneigung gegen eine längere Reiſe, welche er beab-
ſichtigt hatte mit der Tochter zu unternehmen. — Dies
Kind! Sein Einzigſtes, Liebſtes auf der Welt! Wie
hatte er ſich gefreut, als ſie wieder einzog in das öde
Haus, innerlich gefreut, denn zu äußern pflegte er über-
haupt nie ſeine Empfindungen. Und jetzt? Jetzt, wo er
noch einmal zu hoffen wagte auf ein ſtilles Glück an der
Seite ihres Kindes, die er namenlos geliebt, jetzt trat
ihm der Sohn jenes Weibes in den Weg, ſo widerwärtig
dreiſt. — Er ballte die Fauſt und ſchritt unwillkürlich
raſcher. „Zu ihrem Beſten,“ ſagte er laut, „mit rückſichts-
loſer Strenge will ich jedes weichere Gefühl unterdrücken
und mich lieber wieder von dem Kinde trennen, als es
dieſer Gefahr auszuſetzen.“ Ja, es war ein hartes Schickſal,
das ihm beſchieden.
So gelangte er zum Thore hinaus, und links abbiegend
und eine mäßige Hoͤhe hinanſchreitend ſtand er bald vor
der zierlichen eiſernen Gitterthür eines parkartigen Gartens.
Es war ſein Garten; ſein Haus, jenes alterthümliche
maſſive, ſo heimathlich winkende Gebäude. Hier hatte er
die glücklichſten Stunden ſeines Lebens zugebracht, hier war
ſein Kind geboren, ſein Weib geſtorben, und hier war ihm
ein Schatz geblieben, den er um alle Güter der Welt nicht
hingeben würde, die Wohnräume ſeiner Anna, die, unbe-
rührt von fremder Hand, ſich noch in demſelben Zuſtande
befanden, wie ſie ſie verlaſſen. Er ließ damals die Läden
ſchließen, nahm die Schlüſſel an ſich, und nur, wenn er
die mühſam beherrſchte Sehnſucht gar nicht mehr zu zügeln
vermochte, war er in das Heiligthum gegangen und hatte

der Entſchlafenen gedacht, aber auch jener, die die Schuld
 
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