heidelberger Fanilienblätter.
Bellletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeikung.
Ur. 6.
Mittwoch, den 20. Januar
1886.
Der Bauerndoktor.
Novelle von Helene Naumburg.
(Fortſetzung.)
„Es hielt nicht ſchwer, meine Wirthe wie zufällig auf
die Grafen von Rauhenſtein zu bringen; denn, wenn auch
das faktiſche Verhältniß als Grundherren aufgehört hatte,
in der Vorſtellung der Leute blieben ſie doch die regierende
Familie, die wichtigſten Perſönlichkeiten weit und breit im
Lande. Die liebliche Erſcheinung der jungen Gräfin hatte
ſich der Phantaſie des Volkes tief eingeprägt, ſie erſchien
den treuherzigen Leuten wie ein Schutzengel, deſſen Hand
alles beſſern und heilen könne, was in dem Schickſal des
Hauſes morſch und welk geworden war. Davon gab es
freilich genug, denn bei dem vieljährigen Reiſeleben hatten
die Verwalter ſchlimm gewirthſchaftet. Doch nun die Herr-
ſchaft zu dauerndem Aufenthalt nach Rauhenſtein gekommen
war, ſollte ja alles anders werden. Freilich, mit dem
Herrn Grafen ſtände es ſchlecht, er müſſe wohl für ſein
wildes Leben büßen; gekränkelt hätte er ſchon lange Zeit,
jetzt wäre er oft gar wunderlich im Kopf.
„Je näher das Wiederſehen mit ihr rückte, deſto be-
klommener, muthloſer wurde ich. Sie war mir jetzt ſo
nah, und während mir früher kein Hinderniß Bedenken ein-
geflößt hatte, ſchien mir jeder Plan, ſie allein zu ſprechen,
nnausführbar, doch ſchneller als ich hoffen konnte, ſtand
ich ihr gegenüber. ö
„Ich war am erſten Morgen den Höhenzug hinauf-
geſtiegen, auf deſſen äußerſtem Vorſprung ſich das burg-
artige Schloß erhob, aber ich hatte in meiner augenblick-
lichen Zaghaftigkeit die entgegengeſetzte Richtung eingeſchlagen.
Eine Weile ging ich unter dichtem Laubſchatten, bis der
Weg umbiegend zu einem Altan führte, gegen deſſen niedrige
Brüſtung eine ſchlanke Frauengeſtalt lehnte. Es lag etwas
ſo Trauriges in der Haltung, daß mich die Angſt packte,
ſie könne ſich verzweifelnd über das Geländer in die Tiefe
ſtürzen, noch ehe ich Zeit hätte, ſie zu erreichen. Unwill-
kürlich rief ich „Elſa“. Sie ſchreckte zuſammen, wendete
den Kopf nach meiner Seite und eilte mir entgegen, wie
ö ſie es als Kind im Stift zu thun pflegte. Aber halbwegs
blieb ſie ſtehen, nur die matt herabſinkende Hand ließ ſie mir.
„Dann ſaßen wir zufammen auf der alten Steinbank
dort oben, und in wilder Haſt ſchüttete ich ihr mein Herz
aus, alles was mir widerfahren war, ſeit der Tod ihrer
Mutter uns getrennt hatte. Wie brannte mir der Zorn
im Herzen gegen die beiden Männer, die ſie um ihre Jugend
betrogen hatten und mich um fie. Wie hatte ſie ſich ver-
ändert, wo war der jugendliche Frohſinn, das ſonnige
Lächeln von ehedem? Nur einmal kam es wieder, als ſie
erfuhr, daß ich die wahren Gründe ihres Handelns kannte.
Doch als ich dadurch kühner gemacht, andeutete, daß ich noch
auf eine Zukunft hoffe, unterbrach ſie mich.“
»DO Dietrich, ſchweigen Sie! Sie hätten mir das Glück
annen ſollen, in Ihnen nur noch einen Freund zu ſehen,
Sie wiſſen, was mich veranlaßte, Rauhenſteins Frau
verden. Unſer Schickſal iſt unwiderruflich getrennt.“
„Nimmermehr!“ rief ich. „Wir ſind beide um unſer
Glück betrogen worden, und wir nehmen nur, was uns
gebührt, wenn wir es jetzt zurückverlangen — vorausgeſetzt,
daß Sie mich noch lieben, mich überhaupt je geliebt haben.
„Ich wußte, daß ich ihr mit den Worten wehe that,
aber der Gedanke an die Opfer, die ſie Unwürdigen ge-
bracht, an das Glück, das ſie mir verſagt hatte, machte
mich grauſam. Das Bewußtſein, daß ſie mich noch liebte,
machte mich ſtark, ſie mir der ganzen Welt zum Trotz zu
erkämpfen. Ihr Hängen an konventionellen Rückſichten,
denn als ſolches erſchien mir ihre Lebensauffaſſung, mußte
bekämpft werden. ö
„Sie hörte meine leidenſchaftlichen Worte ſtill mit zu
Boden geſenkten Blicken an, und ich mußte dabei an den
tiefen Eindruck denken, den dieſer gleichſam nach innen ge-
kehrte Blick auf ihren Vater einſt gemacht hatte. Sie
kämpfte mit ſich, das ſah ich an den krampfhaft ineinander-
gepreßten Händen.
„Dietrich,“ ſagte ſie mit ſtockender Stimme, die aber
allmälig an Feſtigkeit gewann, „Sie haben recht, daß ein
Zwang gegen mich geübt worden iſt, ſo frei ich auch zu
handeln ſchien. Aber — das ändert an der Sache nichts.
— ich habe mein Wort gegeben und die Rettung ange-
nommen — wenn auch aus dieſer Hand. Ach, ſelbſt wenn
Sie in meiner Nähe geweſen wären — ſelbſt wenn Sie
in der Lage geweſen, mir zu helfen — ich weiß nicht, ob
ich den Muth gehabt hätte, Sie mit unſerm ſchmachvollen
Geheimniß zu belaſten. Vor dem Grafen Rauhenſtein fühlte
ich mich weniger gedemüthigt. Ich hatte damals leider
ſchon genug von der Welt geſehen, um zu wiſſen, wie
ſchwankend die Grenze zwiſchen Recht und Unrecht in dem
Kreiſe der Männer war, unter denen mein Vater ſich be-
wegte, und ſo tief erniedrigt ich mich bei dem Handel fühlte,
Graf Rauhenſtein hatte trotz alledem kein Recht, auf mich
herabzuſehen. Daß er dies Recht nie erhalte, iſt ſeit meiner
Verheirathung das Ziel meines Strebens geweſen — um
meiner ſelbſt und meiner Kinder willen.“
„Ob ſie mir gar nichts ſchuldig ſei, fragte ich empört.
Erſt habe ſie ſich und mich aus übertriebenem Pflichtgefühl
dem Vater geopfert — nun wolle ſie mich den Kindern
des ungeliebten Mannes opfern.
„Sie war tief bewegt und vermochte nur mit An-
ſtrengung zu reden. „Soll der Fluch, der auf meiner
Kindheit gelaſtet hat, ſich unaufhaltſam auf ſie forterben?
Sollen meine Kinder mit Nichtachtung an ihren Vater und
mit Scham an ihre Mutter denken müſſen, und den Ver-
führungen des Lebens noch ſchutzloſer gegenüberſtehen, als
ich, die doch an der Mutter einen feſten Halt hatte 2. Ja,
Dietrich, ich geſtehe es Ihnen, mehr als einmal habe ich
mit der Verſuchung, meinem Leben ein Ende zu machen,
kämpfen müſſen, und jedesmal hat mich dieſer Gedanke
zurückgehalten. Das Glück, an das Sie für uns beide
noch glauben, gibt es nicht, ſelbſt wenn die Leidenſchaft
für eine Weile bei mir die Stimme des Gewiſſens über-
täubte. Die Reue käme doch, und ich würde Sie und mich
noch unglücklicher machen, als wir es jetzt ſchon ſind. Sie
werden, Sie müſſen in Ihrem Beruf, und hoffentlich mit
Bellletriſtiſche Beilage zur Heidelberger Zeikung.
Ur. 6.
Mittwoch, den 20. Januar
1886.
Der Bauerndoktor.
Novelle von Helene Naumburg.
(Fortſetzung.)
„Es hielt nicht ſchwer, meine Wirthe wie zufällig auf
die Grafen von Rauhenſtein zu bringen; denn, wenn auch
das faktiſche Verhältniß als Grundherren aufgehört hatte,
in der Vorſtellung der Leute blieben ſie doch die regierende
Familie, die wichtigſten Perſönlichkeiten weit und breit im
Lande. Die liebliche Erſcheinung der jungen Gräfin hatte
ſich der Phantaſie des Volkes tief eingeprägt, ſie erſchien
den treuherzigen Leuten wie ein Schutzengel, deſſen Hand
alles beſſern und heilen könne, was in dem Schickſal des
Hauſes morſch und welk geworden war. Davon gab es
freilich genug, denn bei dem vieljährigen Reiſeleben hatten
die Verwalter ſchlimm gewirthſchaftet. Doch nun die Herr-
ſchaft zu dauerndem Aufenthalt nach Rauhenſtein gekommen
war, ſollte ja alles anders werden. Freilich, mit dem
Herrn Grafen ſtände es ſchlecht, er müſſe wohl für ſein
wildes Leben büßen; gekränkelt hätte er ſchon lange Zeit,
jetzt wäre er oft gar wunderlich im Kopf.
„Je näher das Wiederſehen mit ihr rückte, deſto be-
klommener, muthloſer wurde ich. Sie war mir jetzt ſo
nah, und während mir früher kein Hinderniß Bedenken ein-
geflößt hatte, ſchien mir jeder Plan, ſie allein zu ſprechen,
nnausführbar, doch ſchneller als ich hoffen konnte, ſtand
ich ihr gegenüber. ö
„Ich war am erſten Morgen den Höhenzug hinauf-
geſtiegen, auf deſſen äußerſtem Vorſprung ſich das burg-
artige Schloß erhob, aber ich hatte in meiner augenblick-
lichen Zaghaftigkeit die entgegengeſetzte Richtung eingeſchlagen.
Eine Weile ging ich unter dichtem Laubſchatten, bis der
Weg umbiegend zu einem Altan führte, gegen deſſen niedrige
Brüſtung eine ſchlanke Frauengeſtalt lehnte. Es lag etwas
ſo Trauriges in der Haltung, daß mich die Angſt packte,
ſie könne ſich verzweifelnd über das Geländer in die Tiefe
ſtürzen, noch ehe ich Zeit hätte, ſie zu erreichen. Unwill-
kürlich rief ich „Elſa“. Sie ſchreckte zuſammen, wendete
den Kopf nach meiner Seite und eilte mir entgegen, wie
ö ſie es als Kind im Stift zu thun pflegte. Aber halbwegs
blieb ſie ſtehen, nur die matt herabſinkende Hand ließ ſie mir.
„Dann ſaßen wir zufammen auf der alten Steinbank
dort oben, und in wilder Haſt ſchüttete ich ihr mein Herz
aus, alles was mir widerfahren war, ſeit der Tod ihrer
Mutter uns getrennt hatte. Wie brannte mir der Zorn
im Herzen gegen die beiden Männer, die ſie um ihre Jugend
betrogen hatten und mich um fie. Wie hatte ſie ſich ver-
ändert, wo war der jugendliche Frohſinn, das ſonnige
Lächeln von ehedem? Nur einmal kam es wieder, als ſie
erfuhr, daß ich die wahren Gründe ihres Handelns kannte.
Doch als ich dadurch kühner gemacht, andeutete, daß ich noch
auf eine Zukunft hoffe, unterbrach ſie mich.“
»DO Dietrich, ſchweigen Sie! Sie hätten mir das Glück
annen ſollen, in Ihnen nur noch einen Freund zu ſehen,
Sie wiſſen, was mich veranlaßte, Rauhenſteins Frau
verden. Unſer Schickſal iſt unwiderruflich getrennt.“
„Nimmermehr!“ rief ich. „Wir ſind beide um unſer
Glück betrogen worden, und wir nehmen nur, was uns
gebührt, wenn wir es jetzt zurückverlangen — vorausgeſetzt,
daß Sie mich noch lieben, mich überhaupt je geliebt haben.
„Ich wußte, daß ich ihr mit den Worten wehe that,
aber der Gedanke an die Opfer, die ſie Unwürdigen ge-
bracht, an das Glück, das ſie mir verſagt hatte, machte
mich grauſam. Das Bewußtſein, daß ſie mich noch liebte,
machte mich ſtark, ſie mir der ganzen Welt zum Trotz zu
erkämpfen. Ihr Hängen an konventionellen Rückſichten,
denn als ſolches erſchien mir ihre Lebensauffaſſung, mußte
bekämpft werden. ö
„Sie hörte meine leidenſchaftlichen Worte ſtill mit zu
Boden geſenkten Blicken an, und ich mußte dabei an den
tiefen Eindruck denken, den dieſer gleichſam nach innen ge-
kehrte Blick auf ihren Vater einſt gemacht hatte. Sie
kämpfte mit ſich, das ſah ich an den krampfhaft ineinander-
gepreßten Händen.
„Dietrich,“ ſagte ſie mit ſtockender Stimme, die aber
allmälig an Feſtigkeit gewann, „Sie haben recht, daß ein
Zwang gegen mich geübt worden iſt, ſo frei ich auch zu
handeln ſchien. Aber — das ändert an der Sache nichts.
— ich habe mein Wort gegeben und die Rettung ange-
nommen — wenn auch aus dieſer Hand. Ach, ſelbſt wenn
Sie in meiner Nähe geweſen wären — ſelbſt wenn Sie
in der Lage geweſen, mir zu helfen — ich weiß nicht, ob
ich den Muth gehabt hätte, Sie mit unſerm ſchmachvollen
Geheimniß zu belaſten. Vor dem Grafen Rauhenſtein fühlte
ich mich weniger gedemüthigt. Ich hatte damals leider
ſchon genug von der Welt geſehen, um zu wiſſen, wie
ſchwankend die Grenze zwiſchen Recht und Unrecht in dem
Kreiſe der Männer war, unter denen mein Vater ſich be-
wegte, und ſo tief erniedrigt ich mich bei dem Handel fühlte,
Graf Rauhenſtein hatte trotz alledem kein Recht, auf mich
herabzuſehen. Daß er dies Recht nie erhalte, iſt ſeit meiner
Verheirathung das Ziel meines Strebens geweſen — um
meiner ſelbſt und meiner Kinder willen.“
„Ob ſie mir gar nichts ſchuldig ſei, fragte ich empört.
Erſt habe ſie ſich und mich aus übertriebenem Pflichtgefühl
dem Vater geopfert — nun wolle ſie mich den Kindern
des ungeliebten Mannes opfern.
„Sie war tief bewegt und vermochte nur mit An-
ſtrengung zu reden. „Soll der Fluch, der auf meiner
Kindheit gelaſtet hat, ſich unaufhaltſam auf ſie forterben?
Sollen meine Kinder mit Nichtachtung an ihren Vater und
mit Scham an ihre Mutter denken müſſen, und den Ver-
führungen des Lebens noch ſchutzloſer gegenüberſtehen, als
ich, die doch an der Mutter einen feſten Halt hatte 2. Ja,
Dietrich, ich geſtehe es Ihnen, mehr als einmal habe ich
mit der Verſuchung, meinem Leben ein Ende zu machen,
kämpfen müſſen, und jedesmal hat mich dieſer Gedanke
zurückgehalten. Das Glück, an das Sie für uns beide
noch glauben, gibt es nicht, ſelbſt wenn die Leidenſchaft
für eine Weile bei mir die Stimme des Gewiſſens über-
täubte. Die Reue käme doch, und ich würde Sie und mich
noch unglücklicher machen, als wir es jetzt ſchon ſind. Sie
werden, Sie müſſen in Ihrem Beruf, und hoffentlich mit