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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 35 - Nr. 43 (1. Mai - 29. Mai)
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hridelberger Familienblätter.

Veletriiſch Beilage zur Sanhann Beilung.

Ur. 37.

Sanstas den 8. Mai

1886.

Zun Jindwurn.
Roman von B. Renz.
(Fortſetzung.)
„Und was verſprichſt du mir nun?“ fragte er weich
und ſtrich ihr über die Wangen.
„O Vater!“ ſagte das Mädchen traurig, „es iſt doch
furchtbar hart! Er — ein ſo guter Menſch und ſo un-
glücklich, unſer einziger Verwandter, und er ſoll, wie du
ſelbſt geſtehſt, eigentlich ganz arm ſein. Wir könnten ihm
doch — — Aber ich will dir verſprechen,“ ſetzte ſie leiſer
hinzu, „nicht hinter deinem Rücken mit ihm zu verkehren
oder an ihn zu ſchreiben oder Briefe von ihm anzunehmen.
Wenn aber je eine mildere Geſinnung bei dir Platz greifen
könnte — Ach Vater — —“
„Du biſt ein gutes Kind,“ tröſtete Herr Carſtens ge-
rührt und küßte ſie. „Das Leben bietet viel Leid, aber
auch manche Freuden, und auch dir werden ſolche noch be-
ſchieden ſein, zumal wenn du die gehorſame Tochter bleibſt.
Aber nun, adieu, Kind! Ich muß nach dem Gertraudenhof,
um die Handwerker anzuweiſen.“
Eine Stunde ſpäter ſchritt Herr Stadtrath Carſtens die
Straße zum Gertraudenhof hinan, weicher geſtimmt, als
ſeit vielen Jahren. Heute erſchien ihm die Ausſicht doppelt
reizend mit ihren duftigen Fernen; war doch in ihm eine
glückliche Wendung eingetreten mit dem Abſchnitt ſeines
Lebens, den er lange herbeigeſehnt hatte, der Ruhe im
ſchönen Heim an der Seite ſeines Kindes. Es fiel ihm
heute nicht ein, daß ein Tag erſcheinen könnte, der das
Mädchen von ihm fordern würde; er war zu glücklich über
die Verwirklichung ſeines Lieblingsplanes und beſchloß die
Inſtandſetzung des Hauſes mit aller Kraft zu betreiben.
Langſam ſo dahinſchlendernd,
ſpaniſchen Rohre, wie gewohnt, auf dem Rücken haltend,
erblickte er auf einem Steinhaufen, der behufs Beſſerung
der Fahrſtraße gerade dem Eingange ſeines Gartens gegen-
über abgeladen war, eine Geſtalt, und erkannte näher kom-
mend ein Weib, welches in elenden, ſchwarzen Kleidern,
ſaſt in Lumpen gehüllt, daſaß, die Hände vor das Geſicht
geſchlagen, der Körper vom Weinen konvulſiviſch erſchüttert.
Ein Mädchen von etwa ſieben Jahren, barfuß und zer-

der Frau geborgen.
Verwundert blieb der alte Herr ſtehen, als das Weib
aufſchaute; aber mit einem Schrei barg ſie das Geſicht

wieder in den Händen und neigte den Kopf tief hinab in

den Schooß.
„Mein Gott, Chriſtel?“ fragte der Subnath überraſcht.
„Wie kommt Ihr hierher?“

„Ach Herr,“ rief das Weib, „ich bin doch zu elend!“

„Was iſt denn mit Euch, Chriſtel?“ forſchte er weiter,
„Ihr ſeht ja erbärmlich aus, — iſt das Euer Kind?“

„Mein einziges, Herr. — Mein Mann und zwei Kin-

der ſind dort geſtorben an der ſchrecklichen Krankheit, und

da haben ſie mich ausgewieſen; ich ſoll hier das Armen-

recht in Anſpruch nehmen; und heute — eben bin ich —“
Sie konnte vor Schluchzen nicht weiter reden. ö

die Hände mit dem

berichtete die Frau.

„Chriſtel! Chriſtel!“ ſagte der alte Mann, „das 3 iſt
die gerechte Strafe für das Leid, das Ihr mir angethan
habt! Sie lebte vielleicht noch —*
„Ach Herr!“ unterbrach ihn die Frau. „Der Brief!
Ja der Brief war ihr Tod, und ich hatte ihr den Brief
gebracht! Aber all mein Leben iſt ſeitdem Kummer und
Reue geweſen, nichts als Reue, und ich hatte doch nicht
gewußt, was darinnen ſtand!“
„Wie konntet Ihr überhaupt der Frau, die Euch ſo viel
Gutes gethan, einen Brief von jenem böſen Weibe geben,
Chriſtel? Es war ja alles Gift, nur Gift, was von
ihr kam!“ ö
Ein krankhaftes Schluchzen hatte die Fremde befallen.
Endlich richtete ſie den Kopf wieder auf, und beide Hände
nach dem alten Herrn ausſtreckend, ſagte ſie: „O, Herr,
Sie wiſſen es ja wohl nicht, daß die gnädige Frau an
ihre Tante geſchrieben hatte und ſie gebeten hatte, den Haß
zu vergeſſen und bei ihrem Kinde Gevatter zu ſtehen? Die
gnädige Frau wurde ja gar nicht mehr froh wegen dieſer
Feindſchaft. Und ich hatte den Brief heimlich zur Poſt

tragen müſſen, und die gnädige Frau hatte auch gebeten,

die Antwort an mich zu ſchicken, und ſo mußte ich ihr den

Brief geben, worin nur ganz kurz ſtand, daß die Frau

Tante nicht Gevatter ſtehen wollte bei einem — — ich
mag das Wort gar nicht ausſprechen. Und da ſchrie die
Gnädige auf, als ſie es las, und —“
„Chriſtel, und das habt Ihr mir nicht gleich geſagt,
als mein armes Weib geſtorben war?“. Der Mann war
bleich geworgen und die Hand, in der er den Stock hielt,
zitterte.
„O Herr, wie konnte ich? Als Sie den Brief fanden,
jagten Sie mich auf der Stelle fort, und — und geſchla-
gen haben Sie mich auch.
„Das habe ich, ja — leider!“ ſagte Herr Carſtens
tonlos und in ſeinem Geſichte zuckte es wunderbar.
„Ach Herr,“ rief das Weib, „ich will Ihnen ja keinen
Vorwurf machen deßhalb, ich hatt' es ja verdient. Aber
die gnädige Frau — ich kann's nicht vergeſſen, ich habe
jetzt doppelt gefühlt, wie ſchwer das Leben, — mein Mann,
meine beiden Kinder!“ Und wieder ſchluchzte ſie laut auf

und umfaßte das Kind.
lumpt, ſtand neben ihr, und hatte den Kopf an dem Rücken

„Warum habt Ihr aber der armen Frau den Brief
gleich gegeben, und nicht lieber eine beſſere Zeit abge-
wartet, Chriſtel?“ fragte Herr Carſtens mit weicher Stimme.
„Herr, ſie frug täglich und ſtündlich, ob noch keine
Antwort da ſei. Und da, Herr, — ich konnte nicht lügen,
und mir ahnte ja auch nicht, was es für ein abſcheulicher
Brief war.“
„Wo wollt Ihr denn jetzt hin, Chriſtel?“ꝰ
„Ich ſoll mich bei dem Armenpfleger melden, Herr,“
„Aber ich mag es nicht, ich will zu
dem alten tauben Weber Brinkmann gehen, er gehört zu

unſerer Freundſchaft, und wenn er auch arm iſt, ſo kann

er mir doch Arbeit verſchaffen.“
„Und welcher Art iſt die Arbeit, die Ihr thun wollt,
Chriſtel? Möchtet Ihr wieder in einen Dienſt treten?“
„Ach Herr, meine Kleider,“ ſagte die Frau und blickte
 
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