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Heidelberger Familienblätter — 1886

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Nr. 27 - Nr. 34 (3. April - 28. April)
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Heidelberger Familienblätter.

Belletriſliſche Beilage zur Heidelberger Zeitung.

Ar. 28.

Mittwoch, den 7. April

1886.

Zum Jindwurn.
Roman von B. Renz.
(Fortſetzung.)

Faſt unmittelbar darauf trat Tante Roſe ein, als hätte
ſie nur gewartet auf ſeine Entfernung.
„Mein Herzenskind, da biſt du endlich! Aber was
bedeutet das Ganze? Sitzt dort unten in meiner Stuübe
eine ſteife Mamſell; hätte dich hergebracht, ſagt ſie und
läßt ſich Wein und Kaviar ſchmecken! Die ganze Perſon
eine Vokabel; ſie ſieht aus, als wollte ſie mich fragen:
haben Sie auch Ihre Vokabeln gelernt? Sie ſpricht, als
ſagte ſie Vokabeln her und ſie blickt nur Vokabeln; Herzens-
kind, wie haſt du das ausgehalten? Und wie groß du
geworden biſt, juſt ſo groß wie die Selige. Ach, wie
freue ich mich, dich wieder zu haben! — Apropos, deine
Lehrerin will fort, will nach Liebſtein, um ein neues Opfer
zu holen, und möchte ſich dir empfehlen. Komm, gehen
wir hinunter, und nachher erzählſt du mir allerlei.“
Die gute alte Tante Roſe mit der unerſchöpflichen
Suade war zierlich bis zur Zerbrechlichkeit, immer in Be-

einer gewiſſen zähen Logik, die ſie hartnäckig zu verthei-
digen wußte, ſelbſt dem gefürchteten Hausherrn gegenüber.
Nur gegen das kleine Mädchen, das unter ihrer Pflege
herangewachſen, war ſie von einer krankhaften Nachgiebig-
keit geweſen und hatte unbewußt nicht wenig zur Entwick-
lung des Trotzköpfchens beigetragen. ö
Heute war Fräulein Billa nicht beſonders aufgelegt
zum Sprechen. Nach einem kühlen Abſchied von der
Lehrerin, die ſie für die Urheberin des ganzen Unheils
anſah, ging ſie in den Garten, den Schauplatz ihrer Kinder-
ſpiele, wo ſie ſo manche köſtliche Stunde verlebt hatte.
Die Georginen blühten und die Aſtern, die Obſtbäume
brachen faſt unter der Laſt ihrer Spenden und aus den
Weinſpalieren lugten ſchon hie und da reife Frühtrauben
hervor. Es war ein ſo köſtlicher Tag zu Ende des Auguſt-
monds, wie ihn das Herz nur wünſchen konnte; ein feiner
Duft lag über der Gegend und die fernen Bergzüge er-
ſchienen ſo indigoblau, wie Billa es noch nicht geſehen zu
haben glaubte. Sie beſtieg den kleinen Lugaus, der an
der Grenze des Gartens, der alten mächtigen Stadtmauer
liegt, und blickte mit Entzücken hinab auf den Fluß, der
brauſend und ſchäumend ſich einen Weg durch mächtige
Felsblöcke ſucht, und über den Fluß hinweg auf die präch-
tige Wieſe und auf das jenſeits derſelben, nur höher ge-
legene alterthümliche Bauwerk, den Gertraudenhof, das
Eigenthum ihres Vaters, wie ſie vorhin zum erſtenmal
vernommen.
„Dort iſt meine Mutter geſtorben,“ ſagte ſie halblaut,
„und ich weiß noch ſo wenig von ihr —“
„Und dort biſt du geboren, Herzenskind,“ fügte Tante
Roſe hinzu, die ſie plötzlich umfaßt hielt, und zeigte hinüber
nach dem hohen Gebäude, „und was ich von deiner lieben
Mutter weiß, will ich dir gern erzählen.“

du auf meine Fragen ehrlich antworteſt.
wegung, und trotz ihrer unendlichen Herzensgüte im Beſitz

umher und iſt ſpäter ausgewandert.

daß er einſt der Mode huldigte.

„Ja, Tante,“ bat das Mädchen freudig, „ſage mir,
warum haben ſie meiner Mutter ſoviel Leid zugefügt?“
„Ach Kind, das iſt ein gefährliches Thema,“ wehrte
die alte Dame ab, „da mußt du deinen Vater fragen;
wenn er überhaupt geneigt iſt, darüber zu ſprechen. Ich
wage es nicht, gewiß nicht, aber ſonſt will ich dir gern
alles mittheilen.“ —
„Liebſte Tante,“ unterbrach Billa, „ich bin erwachſen,
bin kein Kind mehr, das hinläuft und das Gehörte aus-
ſchwatzt, und ich kenne den Vater genügend, um vorſichtig
zu ſein; endlich, Tante, es gibt Gründe, die es ſehr
wünſchenswerth machen, daß ich die Familiengeſchichte kennen
lerne. Alſo erzähle, liebſte Tante; du weißt, daß ich auf
meinem Kopf beſtehe, wenn ich mir einmal etwas vorge-
nommen habe. Wie lernte Vater Mama kennen und wie
ſah ſie aus 2“
„Das könnte ich dir ebenfalls erzählen, Kind,“ ſagte
Tante Roſe gepreßt, und dachte an die zornigen Blicke des
Herrn Stadtrathes, „von dem andern aber muß ich ſchwei-
gen, ich darf nicht darüber ſprechen.“
„Iſt auch nicht nöthig, Tantchen,“ verſicherte Billa
treuherzig, „das errathe ich ſchon ganz allein, zumal wenn
Nun 2“
VVor fünfundzwanzig Jahren,“ hob die alte Dame an,
„ſah es hier in Reicha anders aus wie heute. Damals
beſaß die Stadt ein Obergericht, und der Präſident deſſel-
ben wohnte in dieſem Hauſe, im Lindwurm, juſt in den-
ſelben Zimmern, die du jetzt bewohnſt; er hieß von Fliſſen.
Einen ſtolzeren hochfahrenderen Mann gab es nicht, und
ſeine Frau übertraf ihn noch darin, denn ſie war nicht
allein über die Maßen ſtolz, ſondern auch intrigant und
abgefeimt. Kinder hatten die Leute zu jener Zeit nicht;
erſt ſpäter, nach ihrer Verſetzung in die Reſidenz wurde
ihnen ein Knabe geboren. Aber es lebte hier bei ihnen
eine Nichte, ein Fräulein von Rheinau, die Bruderstochter
der Frau Präſidentin, von letzterer als mittelloſe Waiſe
aufgenommen, — nun, um des Geredes der Leute wegen.
Der Vater dieſes Mädchens — die Mutter war früh ge-
ſtorben — hatte bei ſeinem Tode nichts hinterlaſſen; ich
glaube, er war Anno dreizehn gefallen. Und ein älterer
Bruder der Frau Präſidentin trieb ſich unſtät in der Welt
So blieb dem Mäd-
chen nur übrig, bei ihrer Tante eine Zuflucht zu ſuchen.“
„Es war ein liebliches Geſchöpf von zwanzig Jahren
als ſie hier erſchien, geſchaffen, jedes Herz zu erobern;
aber ſie wurde von ihren Verwandten, zumal von der Frau
Präſidentin, ſchlechter behandelt als eine Magd, oder, rich-
tiger geſagt, mißhandelt. Sie klagte nie, und nur
einmal, als ſie vor der Bosheit ihrer Tante ſich hinunter
flüchtete zu deinen Großeltern, die damals im Erdgeſchoß
wohnten, geſtand ſie all den Jammer, den ſie zu tragen
hatte. — Dein Vater war zu jener Zeit ein jovialer,
lebensluſtiger Mann, dem es heute Niemand mehr anſieht,
Er lebte als Prokuriſt
eines großen Handlungshauſes in D., kam aber jährlich
einigemale herüber zum Beſuch der alten Eltern, und nun
dauerte es gar nicht lange, da hatte er ſich bis über beide
 
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