Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Münchner kunsttechnische Blätter — 15.1918-1919

DOI issue:
Nr. 1
DOI article:
Seligmann, Adalbert Franz: Die neue Schule [1]
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.36588#0005

DWork-Logo
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
Nr. i

Münchner kunsttechnische Blätter

5

motivs ins Frei-Ornamentale umzustilisieren (frei in dem
Sinne, in dem es etwa eine einigermassen rhythmische
Prosa gegenüber dem strengen Vers ist). Gegen den
Versuch wäre ja nichts einzuwenden — vorausgesetzt,
dass er gelingt. Das kann man aber hier nicht be-
haupten.' Anstatt, dass die Vorzüge* der realistischen
und der stilisierenden Darstellungsweisen vereinigt er-
scheinen, bemerken wir nur die Nachteile der beiden
Methoden. Diese Gebilde sind soweit ornamental, dass
man die dargestellten Gegenstände gar nicht mehr oder
kaum erkennt; sie sind auch soweit naturalistisch, dass
die gesetzmässige Anordnung, die das Wesen des Orna-
ments ausmacht, fortwährend aufs Empfindlichste ge-
stört, ja vernichtet erscheint. Sie sind in einer ruppigen,
schmierig-brutalen, skizzenhaften Manier gehalten, eine
Manier, die sich bei den naturalistischen Impressio-
nisten aus der Eile erklärt, mit welcher der Maler eine
nur kurze Zeit andauernde Licht- oder Farbenwirkung
in der Natur auf die Leinwand zu werfen genötigt ist;
die aber hier widersinnig erscheint, wo die Wirkung
einer kunstgewerblichen Arbeit (Stickerei, Mosaik,
Intasia) angestrebt wird, eine Wirkung, die zum grossen
Teil auf dem Reiz des Materials und einer sorgfältigen,
meist mühsamen Technik beruht.
Viel finden es interessant, wenn hier mit der grössten
Mühe versucht wird, Elemente zu vereinigen, die sich
ihrem Wesen nach vollkommen entgegengesetzt sind,
ja sich gegenseitig aufheben. Nun ja! Interessant ist
es auch, wenn ein Seelöwe versucht, Klavier zu spielen.
Die ungeheuren Anstrengungen zu beobachten, die er
dazu machen muss, mag einen gewissen psychologischen
Reiz haben; die pianistische Leistung als solche wird
man kaum eine bemerkenswerte nennen dürfen.
Nun ist ja der Kunst mit der gewöhnlichen a-j-bLogik
nicht beizukommen, und es ist immerhin möglich, dass
es irgendeinem bedeutenden Talent gelingt, die wider-
sprechendsten Elemente zu einem individuell interessan-
ten Ganzen zusammenzuzwingen. Manches von Hodler,
Klimt, wäre hier zu nennen und hat in diesem Sinne
wenigstens den Wert eines kunstpsychologischen Do-
kuments. Allein wir sprechen gar nicht von solchen
Werken, sondern von jenen äusserst zahlreichen, die
ganz offenbar einem absoluten Mangel von Naturgefühl
und Formensinn einerseits, von ornamentaler Empfin-
dung und Geschmack andererseits, verraten; von sol-
chen, vor denen es auch dem ungeübten Beschauer
sofort klar wird, dass auf sie nicht einmal die Bezeich-
nung schülerhaft oder dilettantisch Anwendung ßnden
kann. Denn der Schüler hat, wo nicht viel, doch schon
etwas gelernt oder ist wenigstens bestrebt, etwas zu
lernen; Dilettant ist man nicht ohne irgendwelche Spur
von Begabung oder manueller Fertigkeit. Hier sehen
wir jedoch Produkte, die vollkommen den Klecksereien
neun- bis zehnjähriger, auffallend talentloser Kinder
gleichen.
In Paris scheinen, wenn auch nicht die ersten und
extremsten, so doch die häufigsten dieser Gattung ent-
standen zu sein, und so ßnden sie sich dort beispiels-
weise im Salon d' automme schon in geschlossenen
Reihen beisammen. Immerhin zeigen diese Produkte
noch hier und da Spuren einer künstlerischen Kultur,
vermutlich gegen die Absicht ihrer Schöpfer, wenn wir
ihre Absicht recht verstehen. Ganz barbarisch, oft
geradezu läppisch wirkt, was manche Schweizer, Russen,
Norweger, in dieser Art bringen. Neuerdings machen
sich, sporadisch*), auch in Deutschland und Oesterreich
solche Erscheinungen bemerklich. Und wenn wir nun
gar hören, dass damit eine neue Kunstrichtung einge-
leitet, darin eine neue zeitgemässe Anschauung aus-

*) Der obige Aufsatz ist vor 19^'geschrieben!
Seitdem hat die neue Schule merkliche '.Fortschritte
gemacht.

gedrückt werden soll, so sind wir wahrhaftig in der
grössten Verlegenheit, uns eine solche Erscheinung zu
erklären.
VonBetrachtern, fachmännisch gebildeten, wie Laien,
die selbständig genug sind, um nach ihren wirklichen
Empßndungen zu urteilen und mutig genug sind, ihr
Urteil auszusprechen, hört man gar oft, das sei eben
einfach Schwindel oder Gassenbüberei. Nun ist es doch
etwas ungeheuerlich, anzunehmen, ganze Konventikel
von Malern, jüngeren und älteren, hätten sich in ver-
schiedenen grossen Städten auf solcher Basis gebildet,
hätten Anhänger, Apostel geworben, materielle Erfolge
gehabt, ja selbst einen Teil der Fachkritik auf ihre
Seite gebracht. Eine solche, wenn auch in sehr be-
schränktem Umfang, aber unleugbar vorhandene leb-
hafte Bewegung bei Schaffenden wie Geniessenden für
blosse Hochstapelei erklären zu wollen, geht denn doch
nicht an. Es müssen sich dafür tiefere Ursachen ßnden
lassen.
Vor genau achtzig Jahren sagte Goethe im Verlauf
eines Gespräches mit Eckermann über „junge Leute,
die ohne eigentliches Talent zur Produktivität angereizt
werden": .Wir leben in einer Zeit, wo viele Kultur
verbreitet ist, dass sie sich gleichsam der Atmosphäre
mitgeteilt hat, worin ein junger Mensch atmet. Po-
etische und philosophische Gedanken regen sich in
ihm; mit der Luft seiner Umgebung hat er sie einge-
sogen, aber er denkt, sie wären sein Eigentum, und
so spricht er sie als das Seinige aus. Nachdem er aber
der Zeit wiedergegeben hat, was er von ihr empfangen,
ist er arm. Er gleicht einer Quelle, die von zugetra-
genem Wasser eine Weile gesprudelt hat und die auf-
hört zu rieseln, sobald der erborgte Vorrat erschöpft ist."
Was für damals gegolten hat, gilt noch viel mehr
für unsere Tage. Auf dem gesamten Gebiete der Kunst
finden wir heute die Errungenschaften der Vergangen-
heit verallgemeinert, zum Gebrauch für Jedermann prä-
pariert und bereitliegend; das, was der Geist der Grossen
in Gold geprägt hat, auf abgegriffenen und abgewetzten *
Nickelmünzen für den Alltagsgebrauch in unzähligen
Stücken kursierend, fast alles, was heute auf dem Ge-
biete der Kunst produziert wird, trägt die Merkmale
einer durch sportmässige Uebung bis zu einem hohen
Grade erlernbaren mechanischen Routine. Man emp-
ßndet schliesslich Abneigung vor allen diesen Behelfen,
Mitteln und Mittelchen, und hat selbst Mühe, diese Ab-
neigung zu bekämpfen, wenn man nun auch in den
Urbildern auf geistreiche und ursprüngliche Weise ver-
wendet ßndet, was einem in zahllosen, oberßächlichen
und handwerksmässigen Nachahmungen schon zum
Ueberdruss geworden ist. Die vielen schlechten Wieder-
holungen verleiden einem am Ende auch die Originale,
und man begreift jenen Theaterbesucher, der bei den
ersten Worten einer „Don Carlos"-Vorstellung: „Die
schönen Tage von Aranjuez sind nun vorüber!" sich
entrüstet an seinen Nachbar wendet: „Nein, so ein
alter abgedroschener Witz!"
Auf dem Gebiete der bildenden Kunst wird schon
durch die ungeheure Masse des Dargebotenen, die un-
zähligen Ausstellungen, Kunstzeitschriften, Reproduk-
tionen eine Uebersättigung erzeugt, die zu ganz sonder-
baren Erscheinungen führen kann, wie sie wohl schon jeder
an sich selbst beobachtet hat: Betrachten wir zum Bei-
spiel — nachdem wir eine sehr grosse Anzahl von
Bildern gesehen haben, — ein Gemälde lang und inten-
siv, so kann ein Augenblick eintreten, in dem es allen
Ausdruck, alle Naturwahrheit, ja alle darstellerische
Bedeutung verliert und als eine gleichsam tote, mit
Farbe bestrichene Leinwand erscheint. Ein analoger
Fall auf einem anderen Gebiete ist der, wenn wir ein
Wort, nachdem wir es oftmals, hintereinander gelesen,
gehört oder uns vorgesagt haben, plötzlich als gänz-
lich sinnloses Silbenkonglomerat empßnden. Es wirken
 
Annotationen