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Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 1.1909

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2. Heft
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Ausstellungen
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Heft 2

Ausstellungen

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heraus interpretieren wir ihn nun mit solchem
Verständnis, daß der deutlich vorliegende Zwie-
spalt zwischen Gewollten und Erreichtem bei
ihm fast gänzlich verschwindet. Es ergeht uns
dabei wie bei den Ätelierbesuchern Marees’,
von denen uns Fiedler erzählt: das Befremdende
der Werke verschwand vollständig unter der
interpretierenden Beredsamkeit des Meisters.
„Hatten die Bilder etwas Unfertiges, Übertrie-
benes, gewaltsam Willkürliches, so verschwand
dies Älles und man glaubte Vollendetes zu
sehen. Das Eine war nicht mehr vom Ändern
zu trennen. Indem der Eindruck der Rede das
Äuge über den Äugenschein davontrug, unterlag
man der merkwürdigsten Täuschung und man
glaubte, in dem sichtbar Vorhandenen das Ge-
schilderte auch wirklich sichtbar zu besitzen.“

Was damals Täuschung durch den Meister
war, ist heute Selbsttäuschung. Dies gut Teil
Selbsttäuschung wollen wir, weil auch ohne das
noch genug übrig bleibt, nicht wegleugnen. Wir
geben uns zwar damit eine Blöße vor den
nüchtern und objektiv Kritisierenden, aber das
ertragen wir in dem Bewußtsein, daß diese
Selbsttäuschung in einem höheren Sinne wahrer
ist als ihre Aussetzungen, denn es handelt sich
nicht um subjektive Selbsttäuschungen, sondern
um die Selbsttäuschung einer ganzen Zeit-
stimmung, in der zurückgedrängte Kräfte han-
delnd werden wollen und darum gern den Preis
einer Selbsttäuschung zahlen.

Äus dieser Perspektive heraus wird auch die
eigentliche Tragik Marees’ am besten sichtbar:
daß er isoliert und ohne kulturellen Zusammen-
hang Synthesen schaffen wollte, wie sie nur der
drängenden Kraft einer ganzen Generation ge-
lingen. Ihm fehlte der Rückhalt an einer großen
Zeitstimmung. Er focht und fiel außerhalb der
Linie. Man nennt solche Fechter heute patho-
logisch, damals hießen sie Originale . . .

Wer die schönen Säle der Sezession durch-
schreitet und das Werk dieses abseits ge-
fallenen Kämpfers — ca. 130 Bilder und 100 Zeich-
nungen in sich aufnimmt, dem bleibt als stärkster
Eindruck nicht ein einzelnes Werk, sondern der
große Schaffenszusammenhang. Ein ethischer
Eindruck überwiegt also den rein künstlerischen,
vorausgesetzt, daß man diese Trennung auf-
recht erhält und sich vor der Erkenntnis ver-
schließt, daß — wenigstens bei uns nordischen
Menschen —: in jeden starken künstlerischen
Eindruck ethische Momente hineinspielen. Daß
Marees selbst von solcher Trennung nichts
wissen wollte, wissen wir durch Fiedler, der es für
Marees gerade bezeichnend findet, „daß er dieFor-
derung künstlerischer Leistungsfähigkeit als eine
moralische Forderung an den Charakter auf stellte.“

Diese künstlerische Charakterentwicklung des
Meisters wird durch die Ausstellung in allen
einzelnen Stadien übersichtlich illustriert. Unsere
Vorstellung von Marees war ja bisher nur auf
die „Tränke“ der Schackgalerie, die Schleiß-
heimer Bilder und das, was die Jahr-
hundert-Ausstellung an neuem brachte, ange-
wiesen. Die Lücken in dieser Vorstellung werden
nun reichlich ausgefüllt. Neben den unbekannten
Änfangsarbeiten, die mehr Kuriositätsinteresse
erregen, überraschen am meisten die Bilder der
mittleren Epoche, die uns Marees in dem Sta-
dium zeigen, wo er Dinge von schlechthin reifer,
meisterlicher, unproblematischer Schönheit schafft,
die jedem zugänglich sind, der offene Sinne
hat. Es ist interessant, wie sich aber auch hier
schon der Zwiespalt der späteren Entwicklung
ankündigt. Während die Farbe noch voll blühen-
der Lyrik ist, ist die Komposition schon ganz
von epischer Schwere und Getragenheit. Und
es konnte sich in Zukunft für Marees nur
darum handeln, auch in der Farbe die epischen
Wirkungen seiner Komposition zu erzielen, mit
anderen Worten: ohne ins Dekorative zu ver-
fallen, einen monumental geschlossenen Ge-
samteindruck zu erhalten. Er reduzierte zu
diesem Zweck die Farbe wieder auf ihren bloßen
Äusdruckswert als Mittel zur Formgestaltung
und Raumbildung und setzte damit, um Höheres
zu erreichen, seine koloristischen Errungenschaften,
die ihm Ruhm und Geld bis ans Lebensende
hätten einbringen können, gerne aufs Spiel.
Statt Koloristik suchte er wahre malerische
Gestaltung zu erreichen. Äber die technischen
Experimente, die er anstellte, trieben ihn dann
in die Sackgasse der verhängnisvollen Firnis-
malerei, die ihn von seinen Zielen weit ent-
fernte und uns den Eindruck seines letzten und
bedeutungsvollsten Schaffens zerstörte: Das

Unglück war, daß er Wirkungen erstrebte, die
über die Mittel seiner Kunst hinausgingen. So
rächte sich an ihm der Versuch, Plastik und
Raumfülle mit anderen als rein malerischen, an
die Fläche gebundenen Mitteln zu erreichen.
Statt Meisterwerke hinterließ er uns Trümmer,
denen gegenüber wir höchstens die müßige Er-
wägung anstellen können, was daraus gewor-
den wäre, wenn Marees zwanzig Jahre später
gelebt und an die malerischen Errungenschaften
der großen Franzosen hätte anknüpfen können.
Wobei noch die Frage offen bleibt, ob er von
dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht hätte.

Die große pädagogische Wirkung des Oevre
Marees wird durch diese letzte Wendung nicht
unterbrochen, denn gerade diese Katastrophe
gibt uns die heilsamsten Lehren, sie bestätigt
vor allem den Entwicklungsgang, den die Kunst
 
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