Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers — 1.1909
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9. Heft
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302
Der Cicerone
Heft 9
Holbeins, darunter wundervolle Miniaturen, ein
Petrus Christus und das sdion öfter gesehene
Bild von Memling aus dem Besitz des Duke
of Devonshire, das seiner Stifterporträte wegen
wohl hier mit aufgenommen worden ist. Den
mit einer instruktiven und anregenden Einleitung
versehenen Katalog haben Mr. Lionel Cast und
Mr. Charles Bell verfaßt. Eine ganze Reihe von
Sammlern und gelehrten Vereinen haben wieder
bereitwilligst ihre Schätze zur Verfügung ge-
stellt, u. a. die Society of Äntiquares, der Earl
of Verulam, der Duke of Buccleuch, Pierpont
Morgan. Zur Besichtigung der Ausstellung be-
darf es der Einführung durch ein Mitglied.
Diverse Ausstellungen. In der Alpine
Club Gallery hielt Arthur Streeton, ein geborener
Australier, eine Einmannsschau ab, die viel in-
dividuelles Sehen und herrisches Bezwingen
alter Landschaftsstoffe (vor allem Venedigs)
verriet. — Die Royal Society of British Ärtists,
deren Präsident Mr. East ist, führt gleichsam
in einer Tribuna die guten und eigengeborenen
Werke ihrer besten Mitglieder vor, zu denen
jetzt auch der erwähnte A. Streeton gehört.
Alles übrige ist bedeutungslos. Das ist für
Publikum wie Kritiker sehr menschenfreundlich
gehandelt. — Das Royal Institute of Painters
in Water-Colour hat in seiner 100. Ausstellung
keine solche Tribuna — leider. F.
s
PÄRIS —-= =-
Der Salon des Independants. Der dies-
jährige Salon des Independants findet in einem
provisorischen Bau auf derTerrasse derTuilerien
statt. Des Raummangels halber wurde die Zahl
der von jedem Künstler auszustellenden Werke
auf zwei beschränkt, so daß die an 6000 Num-
mern grenzende Bilderflut des vorigen Jahres
sich heuer auf 1700 reduziert hat. Für das
nächste Jahr hofft man das Grand Palais zu er-
halten, doch ist diese Frage noch immer nicht
entschieden, da man sich im Ministerium mit
diesem Gedanken nicht recht befreunden will
und da die übrigen Parteien sich natürlich alle
mögliche Mühe geben, diesen Erfolg der In-
dependants zu verhindern. Wir haben schon
früher unseren Standpunkt dargelegt, weswegen
der Einzug der Independants in das Grand Palais
sehr wünschenswert ist. Keiner der bestehen-
den großen Salons mit Jury hat sich auf die
Dauer von Engherzigkeit freihalten können, es
ist also, wie die Dinge einmal liegen, un-
bedingt notwendig, daß ein solcher Salon ohne
Jury existiert, der jungen Talenten die ersten
Schritte weniger schwer macht.
Dieser prinzipielle Grund und nicht die von
Jahr zu Jahr schwankende durchschnittliche Quali-
tät der ausgestellten Werke lassen es uns als
dringend wünschenswert erscheinen, daß der
Salon der Independants auch für die Zukunft
in einem geeigneten Ausstellungslokal weiter-
besteht. Äußer dem Grand Palais kann kein
anderer Ort ernstlich in Betracht kommen.
Die diesjährige Ausstellung bietet kaum etwas
bemerkenswert neues. Aus der Menge der
gleichgültigen Minderwertigkeit, die bei diesem
Salon seiner Konstitution halber notwendig ist,
hebt sich die Gruppe der alten Independants der
neunziger Jahre heraus. Die Neoimpressionisten
Signac, Cross, Luce, der dieses Jahr vom Staat
angekauft wurde, die Bonnard, Vuiliard, Roussel,
Vallotton, Laprade, Valtat, Guerin sind mit cha-
rakteristischen Werken aus neuerer oder älterer
Zeit vertreten, die an ihrer künstlerischen Per-
sönlichkeit kaum neue Seiten offenbaren.
Heiß tobt die Debatte um die Gruppe Ma-
tisse. Henri-Matisse selber stellt ein Frauen-
bildnis und eine Landschaft aus. Das Bildnis
bietet einen schönen Farbenklang und eine
eigenartige Rhythmik der Linie. Matisse selber
hat kürzlich in einem Artikel der Grande Revue
sein Programm auseinandergesetzt, das im Grunde
die Form zum symbolischen Ausdruck der Em-
pfindungen der Struktur und Statik macht. Diese
Theoreme sind außerordentlich interessant und
ihre Entwicklung zeugt von großer dialektischer
Schärfe. Man versteht, daß Matisse, der eine
in letzter Zeit vielbesuchte Akademie leitet, im
Rufe steht, ein hervorragender Lehrer zu sein,
und doch, eben gerade diese Qualitäten scheinen
uns zugleich die Grenzen seines Talentes anzu-
deuten: sein künstlerischer Impuls, der ihn in
seinen ersten Jahren glänzende Landschaften
hervorbringen ließ, wird mehr und mehr von
der Theorie gelähmt. So können wir auch nicht
an eine dauernde Wirkung dieser Kunst glauben,
die von den einen über alles gehoben, von den
anderen maßlos beschimpft wird. Die Gruppe
junger Künstler, die ähnliche Tendenzen wie
Matisse verfolgt, madit, so paradox dies klingen
mag, einen durchaus akademischen Eindruck.
Alle diese extravaganten Gesten sind im Grunde
genau und klug berechnet, die schematisierten
Landschaften von Braque und Derain bedeuten
einen weiteren Schritt der schematisierenden
Abstraktion, die verschiedenen Versuche großer
Dekoration, wie die von Othon Friesz kommen
über elementares Tasten nicht hinaus. In ein
paar Jahren wird diese künstliche Primitivität
von einer neuen naturalistischen oder einer auf
Ingres weiterbauenden klassizistischen Welle
hinweggespült werden.
Der Cicerone
Heft 9
Holbeins, darunter wundervolle Miniaturen, ein
Petrus Christus und das sdion öfter gesehene
Bild von Memling aus dem Besitz des Duke
of Devonshire, das seiner Stifterporträte wegen
wohl hier mit aufgenommen worden ist. Den
mit einer instruktiven und anregenden Einleitung
versehenen Katalog haben Mr. Lionel Cast und
Mr. Charles Bell verfaßt. Eine ganze Reihe von
Sammlern und gelehrten Vereinen haben wieder
bereitwilligst ihre Schätze zur Verfügung ge-
stellt, u. a. die Society of Äntiquares, der Earl
of Verulam, der Duke of Buccleuch, Pierpont
Morgan. Zur Besichtigung der Ausstellung be-
darf es der Einführung durch ein Mitglied.
Diverse Ausstellungen. In der Alpine
Club Gallery hielt Arthur Streeton, ein geborener
Australier, eine Einmannsschau ab, die viel in-
dividuelles Sehen und herrisches Bezwingen
alter Landschaftsstoffe (vor allem Venedigs)
verriet. — Die Royal Society of British Ärtists,
deren Präsident Mr. East ist, führt gleichsam
in einer Tribuna die guten und eigengeborenen
Werke ihrer besten Mitglieder vor, zu denen
jetzt auch der erwähnte A. Streeton gehört.
Alles übrige ist bedeutungslos. Das ist für
Publikum wie Kritiker sehr menschenfreundlich
gehandelt. — Das Royal Institute of Painters
in Water-Colour hat in seiner 100. Ausstellung
keine solche Tribuna — leider. F.
s
PÄRIS —-= =-
Der Salon des Independants. Der dies-
jährige Salon des Independants findet in einem
provisorischen Bau auf derTerrasse derTuilerien
statt. Des Raummangels halber wurde die Zahl
der von jedem Künstler auszustellenden Werke
auf zwei beschränkt, so daß die an 6000 Num-
mern grenzende Bilderflut des vorigen Jahres
sich heuer auf 1700 reduziert hat. Für das
nächste Jahr hofft man das Grand Palais zu er-
halten, doch ist diese Frage noch immer nicht
entschieden, da man sich im Ministerium mit
diesem Gedanken nicht recht befreunden will
und da die übrigen Parteien sich natürlich alle
mögliche Mühe geben, diesen Erfolg der In-
dependants zu verhindern. Wir haben schon
früher unseren Standpunkt dargelegt, weswegen
der Einzug der Independants in das Grand Palais
sehr wünschenswert ist. Keiner der bestehen-
den großen Salons mit Jury hat sich auf die
Dauer von Engherzigkeit freihalten können, es
ist also, wie die Dinge einmal liegen, un-
bedingt notwendig, daß ein solcher Salon ohne
Jury existiert, der jungen Talenten die ersten
Schritte weniger schwer macht.
Dieser prinzipielle Grund und nicht die von
Jahr zu Jahr schwankende durchschnittliche Quali-
tät der ausgestellten Werke lassen es uns als
dringend wünschenswert erscheinen, daß der
Salon der Independants auch für die Zukunft
in einem geeigneten Ausstellungslokal weiter-
besteht. Äußer dem Grand Palais kann kein
anderer Ort ernstlich in Betracht kommen.
Die diesjährige Ausstellung bietet kaum etwas
bemerkenswert neues. Aus der Menge der
gleichgültigen Minderwertigkeit, die bei diesem
Salon seiner Konstitution halber notwendig ist,
hebt sich die Gruppe der alten Independants der
neunziger Jahre heraus. Die Neoimpressionisten
Signac, Cross, Luce, der dieses Jahr vom Staat
angekauft wurde, die Bonnard, Vuiliard, Roussel,
Vallotton, Laprade, Valtat, Guerin sind mit cha-
rakteristischen Werken aus neuerer oder älterer
Zeit vertreten, die an ihrer künstlerischen Per-
sönlichkeit kaum neue Seiten offenbaren.
Heiß tobt die Debatte um die Gruppe Ma-
tisse. Henri-Matisse selber stellt ein Frauen-
bildnis und eine Landschaft aus. Das Bildnis
bietet einen schönen Farbenklang und eine
eigenartige Rhythmik der Linie. Matisse selber
hat kürzlich in einem Artikel der Grande Revue
sein Programm auseinandergesetzt, das im Grunde
die Form zum symbolischen Ausdruck der Em-
pfindungen der Struktur und Statik macht. Diese
Theoreme sind außerordentlich interessant und
ihre Entwicklung zeugt von großer dialektischer
Schärfe. Man versteht, daß Matisse, der eine
in letzter Zeit vielbesuchte Akademie leitet, im
Rufe steht, ein hervorragender Lehrer zu sein,
und doch, eben gerade diese Qualitäten scheinen
uns zugleich die Grenzen seines Talentes anzu-
deuten: sein künstlerischer Impuls, der ihn in
seinen ersten Jahren glänzende Landschaften
hervorbringen ließ, wird mehr und mehr von
der Theorie gelähmt. So können wir auch nicht
an eine dauernde Wirkung dieser Kunst glauben,
die von den einen über alles gehoben, von den
anderen maßlos beschimpft wird. Die Gruppe
junger Künstler, die ähnliche Tendenzen wie
Matisse verfolgt, madit, so paradox dies klingen
mag, einen durchaus akademischen Eindruck.
Alle diese extravaganten Gesten sind im Grunde
genau und klug berechnet, die schematisierten
Landschaften von Braque und Derain bedeuten
einen weiteren Schritt der schematisierenden
Abstraktion, die verschiedenen Versuche großer
Dekoration, wie die von Othon Friesz kommen
über elementares Tasten nicht hinaus. In ein
paar Jahren wird diese künstliche Primitivität
von einer neuen naturalistischen oder einer auf
Ingres weiterbauenden klassizistischen Welle
hinweggespült werden.