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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 17 - Nr. 25 (1. März - 29. März)
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83

ger erſchöpften, elenden Reſte der großen Armee im-
mer vorwärts hetzte, geſellte ſich den Leiden der Rn-
glücklichen ſchon in der erſten Novemberwoche ein nor-
diſcher Winter in aller Strenge. Die Phantaſie ver-
mag nicht, Bilder zu erfinden, welche an Gräßlichkeit
alle die furchtbaren Einzelheiten jenes Rückzuges über-
böten. Jede Nacht erfroren viele Hunderte, und am
Tage ſtarben eben ſo viel an gänzlicher Entkräftung,
eine Reihe von Leichen bezeichnete den Weg, den die
Armee ging. Die Soldaten warfen haufenweis die

Gewehre weg, Ordnung und Disziplin hatten aufge-

hört. Ee war ein „Triumphzug des Todes,“ wie ſich
ein Augenzeuge ausdrückt. Der Uebergang über die
Bereſina, Ende Rovembers, ſchildert der General Ernſt
von Pfuel, damals Major in ruſſiſchen Dienſten, wie
folgt: „Dieſer Uebergang wird wegen ſeiner Schreck-
niſſe lange in dem Gedächtniſſe der Soldaten leben;

zwei Tage dauerte er; gleich vom Anfange drängteu

ſich die Truppen in Unordnung hinüber, denn mit Ord-
nung geſchah ſchoͤn längſt nichts mehr in der franzöſi-
ſchen Armee; und ſchon damals fanden Viele im Waſ-
ſer ihr Grab; doch als die ruſſiſchen Heere die Korps
von Victor und Dombrowsky zurückwarfen, und Alles
in wilder Flucht der Brücke zuſtürzte, da erreichte Ver-
wirrung und Schrecken bald den Gipfel. Artillerie und
Bagage, und Kavallerie und Infanterie, Alles wolete
zuerſt hinüber, der Stärkere warf den Schwächeren,
der ſeine Flucht aufhielt, in's Waſſer oder ſchlug ihn
zu Boden, gleichviel od Offizier oder nicht; viele Hun-
derte wurden von den Kanonen gerädert, Viele ſuch-

ten den kurzen Raum zu durchſchwimmen und erſtarr-
ten, Viele verſuchten über die hin und her befindliche

Eisdecke zu gehen und verſanken; überall Geſchrei nach
Hülfe und nirgends Rettung.
ſchen Batterien die Brücke und beide Ufer zu beſchie-

ßben anfiengen, hatte der Uebergang ein Ende. — Tau-
ſerde waren ertrunken oder zwiſchen den Eisſchollen
Iin der Geberde des Schmerzes oder der Verzweiflung

erſtarrt, eden ſo viele erſchlagen und eine Menge Ka-

nonen und Bagage blieben verlaſſen auf den linken

Ulſern zurück. —
Bei dieſer Gelegenheit wird uns ein Zug von Ge-
fühlloſigkeit mitgetheilt, den man ſich ſträuben muß zu
giauben, trotz der Glaubwürdigkeit des Berichterſtatters.

Der franzöſiſche Kaiſer, erzählt -Pfuel, hatte trotz der

in ſeiner unglückſeligen Armee täglich ſich wiederholen-

den Scenen des Elends und des Jammers ſo wenig

ſeinen guten Humor verloren, daß, als er bei der

Schreckenspaſſage der Berefina über die Brücke fuhr,
die auf todten Pferden und Menſchen ruhte, und wo
rechts und links ganze Schaaren von Erſtarrenden und
Todeé rangen, er dieſe Unglück-

Ertrinkenden mit dem Todẽ
lichen ſcherzhafter Weiſe 3 W (Kröten) nannte.
„ Die dritte Periode des Rü

in'5 Preupiſche zeigt nichts als eine Jagd längs der
arozen Strahe. Ungefähr 40,060 Mann mit einer

Als endlich die ruſſi-

Die dritte Periode des Rückzuges, ſchreibt der näm-
Erzähler, der ſich im Tſcherniſcheffſchen Roſaken
korps an der Spitze der Verfolgungsſchaaten befand,
von der Bereſina bis zum Niemen und von da weiter

ziemlich bedeutenden Artillerie waren über die Bereſina
gekommen, aber in welchem Zuſtande waren dieſe Trup-
pen! Ein neuer heftiger Froſt gab ihnen völlig den
Reſt. Alles warf jetzt beinahe die Waffen weg, die
Meiſten hatten weder Schuhe noch Stiefel, ſondern
Decken, Torniſter oder alte Hüte um die Füße gebun-
den. Jeder hatte das erſte beſte, was er gefunden,
ſich um Kopf und Schultern gehangen, um eine Hülle
mehr zu haben gegen die Kälte; alte Säcke, zerriſſene
Strohmatteu, friſch abgezogene Häute u. ſ. w., glück-
lich wer irgendwo ein Skückchen Pelz erobert hatte:
mit untergeſchlagenen Armen und tief verhüllten Ge-
ſichtern zogen Offiziere und Soldaten in tiefer Betäu-
bung nebeneinander her, die Garden unterſchieden ſich
in nichts mehr von den Uebrigen, ſie waren wie dieſe
zerlumpt, verhungert und ohne Waffen; alle Gegen-
wehr hatte aufgehört, der bloße Ruf: Koſak! hrachte
ganze Kolonnen in kurzen Trab, und mehrere Hundert
wurden oft von wenigen Koſaken zu Gefangenen ge-
macht. Der Weg, den die Armee zog, füllte ſich mit
Leichen, und jedes Bivouak glich am Morgeu einem
Schlachtfelde; ſowie Einer vor Ermattung hinſtürzte,
fielen die Nächſten über ihn her und zogen ihn, noch
ehe er todt war, nackt aus, um ſich mit ſeinen Lum-
pen zu behängen; alle Häuſer und Scheunen wurden
verbrannt, und auf jeder Brandſtäite lagen ganze Hau⸗—
fen von Todten, die, um ſich zu wärmen, genaht wa-

ren und aus Kraftloſigkeit dem Feuer nicht mehr hat-

ten entfliehen können. Die ganze Landſtraße wimmelte
von Gefangenen, die Niemand mehr beobachtete, und
hier ſah man Scenen des Gräuels, wie ſie noch nie
erlebt worden ſind; von Rauch und Schmutz ganz ſchwarz
ſchlichen ſie wie Geſpenſter auf den Grabſtätten ihrer

todten Kameraden herum, bis ſie hinſielen und ſtar-

ben. Mit bloßen Füßen, in denen der Brand ſchon.
war, hinkten Manche noch auf dem Wege bewußtlos
fort, Andere hatten die Sprache verloren und Viele
waren vor Hunger und Kälte in eine Art wahnſinnige

Betäubung gefallen. Manche waren ſchon ſo ſchwach,

daß ſie nicht einmal mehr Holz herautragen konnten,
dieſe ſaßen auf ihren todten Gefährten, dicht gedrängt

um irgend ein kleines Feuer, das ſie gefunden, herum,

und ſtarben, ſowie dieſes erloſch. Im Zuſtande der

Bewuſtloſigkeit ſah man ſie freiwillig in's Feuer hi-

neinkriechen, und wimmernd ſich verbrennen in der
Meinung ſich zu wärmen, und Andere ihnen nachkrie-

chen, und den nämlichen Tod finden.
Das war das Ende der großen Armee, die nach
Verlauf von kaum ſechs Monaten eine halbe Million
Soldaten weniger zählte. Am 24. November war Na-

poleon durch Willna gekommen und eilte fort und fört

nach. Paris. Das 29. Bulletin aber ſchloß mit den

Worten: „Die Geſundheit Seiner Majeſtät iſt nie beſ-
ſer geweſenJ
 
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