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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 26 - Nr. 34 (1. April - 29. April)
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114

Vor Straßburg lagen wir wochenlang in unſern

unterirdiſchen Gemächern, umdröhnt vom furchtbarſten
Donner der Geſchütze. Zu Zeiten öffneten ſich die
Schleuſen des Himmels und drohten uns wegzuſchwem-
men aus den Laufgräben. Aber unverdroſſen dröhnte
Schuß auf Schuß aus unſern Mörſern, und Alles be-
reitete ſich ſchon zum Sturme vor, als am 27. Sep-
tember, es mochte gegen fünf Uhr Abends ſein, auf der
zerſchoſſenen Baſtion am Kronenburger Thore eine
weiße Flagge aufgezogen wurde. Anfänglich glaubte
man, der belagerte Feind wolle eine Waffenruhe nach-
ſuchen; als ich aber auch über dem Steinthore und
über dem Nationalthore und endlich auch an der Weſt-
ſeite des Münſterthurmes ſich eine weiße Flaͤgge ent-
faltete, da konnte kein Zweifel mehr ſein: Der Feind
wollte kapituliren. ö
(Schluß folgt.)

Kein Deutſcher, doch ein echter deutſcher
Dichter.

Es giebt Viele unter uns, die ſelbſt nicht wiſſen,
ob ſie Deutſche oder Franzoſen ſind, da ſie bisher we-
nigſtens in allem Pariſeriſchen den alleinigen Maßſtab
für das Schöne, Moderne, Reizende und Verlockende
in Handel und Gewerbe, in Kunſt und Mode, in Tanz,
Geſellſchaft und Theater erkannten, es an- und aufge-
nommen haben, und auch jetzt noch nicht von dem Fran-
zöſiſchen laſſen wollen. Ein ſolches Deutſch-Franzoſen-
thum erzeugt aber einen unglückſeligen Zwieſpalt.
Im Bilde Chamiſſo's, des gebornen Franzoſen und
deutſchen Dichtexs, oder vielmehr in der Geſtalt ſeines
Peter Schlemihl, dem Manne ohne Schatten, ſehen wir
dieſe Zwieſpaltigkeit verkörpert, aber auch die Diffe-
renz gelöſt, den Sieg errungen. ö
Chmiſſöo war, wie ſein Familiename ſchon ſagt, nicht
von deutſcher Abkunft; den Taufnamen hatte er ſelbſt
verdeutſcht, und für die drei franzöſiſchen Louis, Char-
les, Adelaide, den einen: Adelbert gewählt. Er war
noch ein Kind, als ſeine Eltern zur Zeit der franzöſi-
ſchen Revolution von Frankreich flüchteten und Schloß
Boncourt verließen, wo der Dichter geboren wurde,
und welchem erſten Heim er eines ſeiner ſchönſten Ge-
dichte geweiht hat. Seine Eltern wandten ihre Schritte

erſt nach Lothringen, dann nach den Niederlanden und

ſpäter nach Deutſchland, und hier, wo der Knabe zum
Jüngling heranreifte, hier ſchlugen Chamiſſo's Sympa-
thien Wurzel, er ward durch und durch ein Deutſcher,
kein Hauch von Franzoſenthum blieb an ihm, und wir
dürfen ihm das nicht als einen Mangel an Charakter
auslegen, wie ſo manchem Deutſchen, der, nachdem er
einige Jahre in Paris zugebracht hat, ſich wie ein
Franzoſe gebehrdet, und ſich ſeiner deutſchen Abſtam-
mung ſchämt. ö
In die Tiefen der deutſchen Sprache eindringend,
gab Chamiſſo ſich ganz dem Zauber ihrer reichen Fülle

hin, ſtudierte ſie und beherrſchte ſie. Aber daß er von
fränkiſcher Abſtammung und deutſcher Geſinnung war,
brachte ihn mit ſich ſelbſt in Uneinigkeit, erzeugte ei-
nen innern Kampf bei ihm, von welchen er ſich⸗durch
ſein weliberühmt gewordenes Buch Peter Schlem
der Mann ohne Schatten endlich befreite. Er
war dieſer Schattenloſe, das heißt Derjenige, der

ein
eigentliches Vaterland hatte, der keiner Nation ange-

hörte. Etwas ſo Nichtiges, ſo Unbedeuteudes wie ein
Schatten iſt das zwar nicht, aber Ehamiſſo gab dieſem
Schatten, der ihm fehlte, den er dem Teufel für einen
Beutel, der nie leer ward, alſo für ſchnödes Geld ver-
kauft hatte, dadurch Bedeutung, daß er ihn wie ſein
zweites Ich auffaßte, indem er es wie eine Schmach
und Schande betrachtete, kein Vaterland zu haben.
Wenn Schlemihl neben Andern in der Sonne ging,
deren Geſtalten Schatten warfen, dann erfaßte es ihn
wie mit Grauſen, daß er, nur er keinen hatte. Ver-
zweiflungsvoll betaſtete er ſich, um ſich zu überzeugen,
daß er noch ein Körper von Fleiſch und Bein ſei, und
ſah dann wie irrſinnig um ſich her, um ſeinen Schat-
ten zu ſuchen. ö
Dieſer peinigende Schmerz ſeiner Seele darüber,
vaterlandslos zu ſein, verlor ſich, als das Buch ge-

ſchrieben war, um ſo mehr, als er ſich bald darauf ei-

ner Forſchergeſellſchaft anſchloß und eine Reiſe um die
Welt mitmachte, von welcher er erſt nach dreijähriger

Abweſenheit wieder zurückkehrte.

Eine Anekdote aus Chamiſſo's früherem Leben, als
er in preußiſche Dienſte, in das Regiment Golz einge-
treten war — vorher verſah er eine Zeit lang Pagen-
dienſte bei der Königin Louiſe von Preußen — mag
hier ihren Platz finden. Ein General, welcher Chamiſſo
in Civilkleidung unter Soldaten auf einem Exerzirplatz
traf, fragte ihn, was er ſei? Ein Dichter! ſoll dieſer
darauf geantwortet haben. Ein Dichter? lautete die
Antwort, und weiter nichts? Ja, Unterlieutnant, Excel-
lenz! fügte der Veſcheidene etwas verblüfft hinzu.
„Nun, das iſt doch etwas!“ erwiederte Se. Excellenz
und ging. Dieſes: das iſt doch etwas, erſcheint faſt
wie eine kritiſche Mahnung, die in Chamiſſo's Seele
ein Echo fand. Ja, er wollte mehr ſein als ein Dich-
ter, das heißt er wollte wiſſen und forſchen, um ſeinen
Gedanken Füllung, ſeinen Ausſprüchen Bedeutung zu
geben. Wie viele Dichter entbehren dieſer Füllung,
ſie erſchöpfen und wiederholen ſich. Anders Chamiſſo.
„Nie iſt etwas Mittelmäßiges aus ſeiner Feder her-

vorgegangen,“ ſagt einer ſeiner unpartheiiſchen Kriti-

ker. Er lebte nur, um zu lernen, und ſeine ſpäteren
Verbindungen in Berlin mit Alexander v. Humboldt,
Kuhnt, Linne, die ihn mit unzerreißbaren Banden an
dieſe Stadt ketteten, gaben den Beweis davon, wie
hochgeachtet er war, da er von den erſten wiſſenſchaft-
lichen Größen der Reſidenz ausgezeichnet, von ihnen
als Freund geſchätzt und geliebt ward. Als Chamiſſo
von ſeiner Weltreiſe nach Berlin zurückkehrte, und nun
da, wo er ſürchtete, ein Fremder geworden zu ſein,
mit Jubel als einer der erſten Dichter empfangen
wurde, denn er war in dieſen drei Jahren durch ſein
 
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