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Heidelberger Volksblatt (4) — 1871

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Nr. 96 - Nr. 104 (2. Dezember - 30. Dezember)
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https://doi.org/10.11588/diglit.44617#0391

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higem Temperament, nahm ich mich zuſammen und ſagte
mit feſter Stimme: „Dieſes Huhn gehört mir, ich habe
es beſtellt, ich werde es bezahlen und bin nicht gewillt,
mein gutes Recht an irgend Jemand abzutreten.“ Ich
ſah den jungen Menſchen dabei ſo grimmig an, als es
mir möglich war und erwartete geſpannt die Wirkung
meiner Worte. „Mein Herr,“ entgegnete er in der
höflichſten Weiſe, „erlauben Sie mir, Ihnen meine Un-
geduld zu erklären. Ich gehöre zu der hier befindlichen
Schauſpielergeſellſchaft. Wir geben heute den „Tamer-
lan,“ ich bin Bajazet und brauche die Kette des Bra-
tenwenders zu meiner Rolle. Sie werden wiſſen, daß
ich in Ketten erſcheine und die Wirthin verſprach mir,
uns dieſes ſo weſentliche Requiſit zu leihen.“ Dieſe
Eröffnung beruhigte mich vollſtändig, und ich lud den
Schauſpieler ein, das Huhn mit mir zu theilen, wel-
ches ſoeben auf den Tiſch geſetzt wurde. Bajazet war
ſehr erfreut, die Einladung annehmen zu können, da
da er noch eine halbe Stunde Zeit hatte. Mit dem
Eſſen waren wir ſchnell genug fertig. Herr Sparkle,
ſo hieß mein neuer Bekannter, gab mir nicht undeut-
lich zu verſtehen, daß — Schnaps ein vortreffliches
Verdauungsmittel ſei; wir leerten Jeder ein anſtändi-
ges Glas voll und machten uns auf den Weg, wäh-
rend deſſen mich Herr Sparkle verſicherte, da ich noch
in dieſen Dingen ein Neuling ſei, würde ich hinter den
Kouliſſen vielerlei finden, das zu kennen ſich verlohnte.
Das Theater war natürlich eine Scheune, die durch-
aus nicht regendicht ausſahz der Vorhang war aus allen
möglichen Flicken zuſammengeſetzt und erinnerte an den
ſcheckigen Anzug der alten Hexe in der „Waiſe“; er
war jedenfalls der beredteſte Ausdruck für jede Ärt
von Armſeligkeit.
von zwölf auf ein Pfund gehen; ſie waren zwar auf
Kredit geliefert, der grauſame Lichtzieher hatte ſich aber
für alle Fälle die königlichen Gewänder des ihm ge-
müthsverwandten Richard III. verpfänden laſſen. Die
Schauſpieler ſchienen in Ausſicht auf eine gute Ein-
nahme durchweg in einer gehobenen Stimmung zu ſein.
Arpaſia, ein hübſches Mädchen, das kürzlich noch bei
einer Putzmacherin in der Lehre geweſen, machte den
Vorſchlag, irgend eine Stärkung auf gemeinſchaftliche
Koſten holen zu laſſen, um die bevorſtehende Anſtren-
gung leichter zu überſtehen, da, wie ſie pathetiſch hin-
zuſetzte, bereits fünfzehn und ein halber Schilling ein
gegangen ſeien. Ich bat um die Erlaubniß, ein Gal-
lon von dem Stoff, den ſie den „Richtigen“ nannte,
aus meinem Gaſthof kommen zu laſſen; ein Anerbieten,
das mit Jubel begrüßt ward, denn Alle erklärten, der
babe „Wachholder“ im Dorfe ſei im „weißen Herz“ zu
aben.
Während das Glas die Runde machte, zeigte uns
der Direktor an, daß der edle Herr Scamber mit ſei-
ner Familie angekommen ſei. Alle ſtürzten au ihren
Poſten. Das Orcheſter, durch einen einzigen Geiger
repräſentirt, ſpielte „God save the King“. In Erman-
gelung einer Glocke gab der Souffleur mit Pfeifen das
Zeichen zum Anfang.
ſuchen, den Vorhang aufzuziehen, was dieſer beharrlich

Die Lichte waren von der Art, wo-

Nach einigen vergeblichen Ver-

dem Rollholz hatte den Kürzeſten gezogen.

verweigerte, entſchloß man ſich kurz und zog, ihn, wie
bei den Griechen ganz herab. Als der Schauplatz wie-
der frei war, erſchien der Prinz von Tandis und apo-
ſtrophirte die Sonne, die ihm Hintergrunde durch eine
angezündete Fuhrmannslaterne vorgeſtellt wurde.
Der erſte Akt ging ohne weitere Störung vorüber,
aber der Direktor ſprach dem „Richtigen“ ſo reichlich
zu — er hatte ihn weggeſchloſſen, damit ſeine Leute
ſich nicht betrinken möchten — daß er, ehe der zweite
Akt zu Ende war, kaum mehr ſtehen und nur nach lal-
len konnte. In der Streitſzene mit Bajazet, worin
Freund Sparkle mit der Bratenwenderkette wunderbar
raſſelte, gerieth Tamerlan aus einer ſcheinbaren in die
wirkliche Wuth und gab dem gefangenen Suttan eine
ſchallende Ohrfeige, indem er einen Schwur ausſtieß,
und ſich die unverzeihliche Variante erlaubte: „Lump,
Du ſollſt wiſſen, daß ich der Direktor bin!“ Die Zu-
ſchauer brüllten vor Lachen. Tamerlan, der es für
Bei fall nahm, verſetzte ſofort ſeinem Alliirten, Aralla,
einen furchtbaren Fauſtſchlag, der ihn zu Boden ſtreckte.
Doch dieſer, flink, wie ein Hirſch, nicht ſo gutmüthig
wie Bajazet, und überdies ein Sohn der Smaragdin-
ſel ſprang im Augenblick in die Höhe, ſchlug Tamer-
lan mit einem Rollholz nieder, das er ſtatt eines Feld-
herrnſtabes in der Hand hielt und ſchrie: „Nimm das,
Du Allerweltsdieb une wenn Du hin biſt, ſo wirſt Du
Dich in Zukunft vorſehen, einen edlen Irrländer zu
ſchlagen!“
Tamerlan, im Dreikampf mit dem „Richtigen“ und
Er war
vollſtändig fertig. Den Souffleur, ein kleines, abge-
lebtes Männchen mit einem Auge und einem Stelzfuß,
humpelte auf die Bühne und ſagte, mit Erlaubniß des
Publikums wolle er den Reſt der Rolle leſen, wenn er
eine Brille aufſetzen dürfe. Es wurde geſtattet und
der dritte Akt begann. Der Stellvertreter des Tamer-
lan hatte eben eine Seite, den Beginn einer Rede her⸗—
untergeleſen, und blätterte, und da ſank plötzlich ſeine
Stimme und er murmelte nur noch: „Die verdamm-
ten Ratten! Da haben ſie fünf Blätter weggefreſſen!“
Hier trat wieder eine tödtlich lange Pauſe ein. End-
lich trat mein Freund mit der Kette vor, der zum
Glück beliebt war. Einige ſchrieen: „Bravo Sparkle!“
Andere, „Was kommt denn nun?“ Sparkle appellirte
zunächſt an die allbekannte Großmuth (2) eines engli-
ſchen Publikums und fügte hinzu, die Geſellſchaft em-
pfinde eine unausſprechliche Demüthigung über die un-
vorhergeſehenen Zwiſchenfälle, die alle ihre Bemühun-
gen zu Schanden gemacht hätten. Als Erſatz für den
zu früh gefallenen Tamerlan bot er im Namen eines
Fräuleins Torrington ein Lied, und für ſeine Perſon
einen Matroſentanz „mit oder ohne Ketten“ an.
(Schluß folgt.)
 
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