Von den vielen unangenehmen Eventualitäten,
Crſtheink
täglich Sonntags
ausgenommen.
Frriis
mit Familien-
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jährlich 24 60
ausſchl. Poſtauf-
ſchlag u. Träger-
Lohn.
Tagblatt und Verfündiger für die Stadt Heidelberg.
Juſerliansgebihr
15 fürdie 1ſpal-
tige Petitzeile oder
deren Raum. Für
hieſ. Geſchäfis-
u. Privata eigen
bedeut. ermäßigt.
Gratis⸗Aufnahmt
d. Inſerate in den
Placat⸗Anzeiger.
Nr. 294.
Mittwoch, den 15. Dezember
1886.
* Beſſere Ausſichten?
Die allgemeine Weltlage läßt ſich nach einigen
neueſten Telegrammen aus London und Wien gegenwärtig
wieder etwas friedlicher an wie in den letzten Wochen, wo
die Situation auf's äußerſte geſpannr war. Dies iſt dem
perſönlichen Eingreifen Kaiſer Wilhelms zu verdanken.
Deutſchlands greiſer Herrſcher ſoll einen freundſchaftlichen,
aber auch ſehr eindringlich gehaltenen Brief an den Cz a ren
gerichtet haben, welcher auf denſelben einen recht tiefen
Eindruck hervorrief und deſſen bis zur Siedehitze geſteigerte
Animoſität gegen die Friedensmächte merklich abgekühlt
haben ſoll. Der Czar ſoll in Folge dieſes Briefes die
Geneigtheit bekunden, in der bulgariſchen Frage etwas
andere Saiten aufzuziehen. Es heißt, Rußland ſei jetzt
bereit, die Candidatur des Mingreliers aufzu-
geben und ſowohl wegen der Perſon des künftigen Bul-
garenfürſten als wegen der weitern Klärung der Orient-
wirren auf eine Vereinbarung mit den andern Mächten ein-
zugehen. Der Dadian ſcheint alſo völlig abgethan zu ſein.
Die Gallerie der Bulgaren⸗Candidaten iſt dagegen um eine Per-
ſönlichkeit bereichert, und zwar um den Prinzen Fer dinand
von Coburg, welcher ernſtlich in Betracht kommen ſoll.
Wie ſchwierig es iſt, auf friedlichem Wege mit der ruſſi-
ſchen Politik auszukommen, erhellt aus einer Schilderung,
welche die „Basl. Nachr.“ nach angeblich glaubwürdiger
Information von der Gemüthsſtimmung des Czaren geben.
Es heißt dort: „Der Czar ſcheint nach den allerneueſten
Kundgebungen wieder einzulenken. Doch es ſcheint eben
nur ſo. Eines iſt gewiß: des Czaren Wuth gegen Bis-
marck war in letzter Zeit wieder grenzenlos; man durfte den
fürchterlichen Namen nicht vor ihm ausſprechen. Der Czar
glaubt, daß Bismarck ein doppeltes Spiel mit ihm getrieben. Man
hat ihm den kleinen Finger gegeben und die Hand will nicht fol-
gen. Das macht ihn raſend. Es hat in den ſoeben verfloſſenen
Wochen Tage gegeben, in denen die geſammte Bewohner-
ſchaft von Schloß Gatſchina bis zum letzten Küchenjungen
hinab zitterte. Wie weit er in ſeinem Zorn ſchon gegangen
war, das müſſen wir unſern Leſern zur Aufklärung der
augenblicklichen Lage mittheilen. Der Czar war ſchon ſo
weit gegangen, Herrn von Freycinet die ruſſiſche
Allianz anzubieten; aber Herr v. Freycinet hat
nicht ohne Weiteres in die ihm dargebotene
Hand eingeſchlagen. Das iſt nicht der einzige, aber
doch der weſentliche Grund, weshalb Herr v. Freycinet nicht
mehr Miniſter iſt. Was wir hier ſagen, wird große Ueber-
raſchung hervorrufen. Wir ſtützen uns auf unſere eigenen
Juformationen, ſie ſind ganz zuverläſſig. Mehrere Gründe
werden Herrn v. Freycinet veranlaßt haben, ſo und nicht
anders zu handeln. Einer genügte: er iſt nicht der Mann
plötzlicher, kühner Entſchlüſſe, ſondern ſeiner ganzen Natur
nach der Mann der klugen Berechnung und der — Umwege.
Er hat den pſychologiſchen Moment verpaßt und wer weiß,
ob dieſer Moment wiederkehrt. Das wird ihm von ſeinen
zahlreichen Gegnern und von Boulanger u. den Freun-
den Boulangers nicht vergeben. Boulanger aber regiert in
dieſem Augenblick in Frankreich ꝛc.“
Daß die Anregung zu der ruſſiſch⸗franzöſiſchen
Alliance, welche in den letzten Wochen in der Luft lag,
nicht von Frankreich, ſondern von Rußland ausging,
hat auch die Köln. Ztig. beſtätigt.
Deutſches Reich.
Berlin, 14. Dez. Wie die Köln. Ztg. aus ſicherer
Quelle erfährt, erwartet der Kaiſer mit Spannung und
nachgrade mit einer gewiſſen Ungeduld, welches Schickſal
die Militärvorlage im Reichstage haben wird. Wenn
nicht bald nach Neujahr mit den erſten Anordnungen vor-
angegangen werden kann, ſo wird die Militärverwaltung
gar nicht im Stande ſein, die Vermehrung der Truppen-
beſtände zum 1. April wirklich zu machen. Bei dieſem
Umſtande empfinden es unſere oberſten Militärbehörden
und empfindet es namentlich der Kaiſer, der den Be-
rathungen der Commiſſion in allen Einzelheiten folgt, recht
ſchmerzlich, daß man erſichtlich von gewiſſer Seite beſtrebt
iſt, die Entſcheidung möglichſt lange hinauszuſchieben, um
die Reichsregierung, damit ſie doch etwas zum 1. April
erreiche, geneigt zu machen, auch mit weniger ſich zu be-
gnügen, als in der jetzigen Vorlage verlangt wird. Sollte
es beliebt werden, in der Einzelberathung jede einzelne
Ziffer anzugreifen und herabzuſetzen, um die Arbeiten mög-
lichſt hinzuziehen, ſo werden die Bevollmächtigten des Bun-
desraths wahrſcheinlich angewieſen werden, eine ſehr kurze
Antwort zu geben. In der That ſcheint es nicht anzugehen,
daß an Einzelheiten herumgemäkelt werde. Entweder hält man
die Vermehrung unſerer Heeresſtärke für nöthig oder aber für
entbehrlich. Je nachdem wird man die Vorlage annehmen oder
ablehnen. Die Einzelheiten können nur von der Militär-
verwaltung richtig getroffen werden, und für dieſe Einzel-
heiten muß und darf man der letztern die Verantwortung
überlaſſen. Es könnte ſonach die Commiſſion ihre Arbeit
ſehr wohl in wenig Tagen erledigt haben. In der Be-
gründung zu dem Entwurf iſt übrigens ausdrücklich die
Nothwendigkeit hervorgehoben, die in Ausſicht genommene
Verſtärkung unſerer Militärmacht „ſo bald als möglich ein-
treten zu laſſen.“ In den höchſten politiſchen wie militä-
riſchen Kreiſen bedauert man es, daß dieſe Worte ſo wenig
gewürdigt worden ſind. Man will es nicht begreifen, daß
der Reichstag ſich nicht ſolle verpflichtet fühlen, dem Kaiſer
und der Militärverwaltung noch vor Weihnachten Gewiß-
heit über ſeine Geneigtheit gegenüber dieſer Vorlage zu
geben, welche Gewißheit lange nach den Weihnachtsferien
einfach zu ſpät käme. Als im Jahre 1883 die Berathung
der Unfallverſicherung ins Stocken kam, richtete der Kaiſer,
wie man ſich erinnert, eine Botſchaft an den Reichstag, in
der „dem Reichstag in vertrauensvoller Anrufung ſeines
bewährten Sinnes für Kaiſer und Reich die baldige Er-
ledigung der Vorlage dringend ans Herz gelegt wurde.“
Wenn ſich jetzt die Berathungen über ein wahrlich doch viel
dringenderes Geſetz noch weiter in die Länge ziehen, ſo
würde man ſchwerlich überraſcht ſein, wenn in gleicher oder
ähnlicher Weiſe das Pflichtgefühl der Volksvertretung an-
gerufen werden ſollte. Wenn dieſer Aufruf wirkungslos
bliebe, ſo wüßte man zugleich, daß von dieſem Reichstage
auch für die Vorlage ſelbſt nichts zu hoffen ſei, und daß
nichts übrig bliebe, als die Auflöſung des Reichstags. Bei
der jedem Einſichtigen hinlänglich klargelegten Wichtigkeit
und Dringlichkeit des Geſetzentwurfs würde die deutſche
Nation es gewiß verſtehen, wenn die verantwortlichen Ge-
walten und an erſter Stelle des Kaiſers Majeſtät kein
Mittel unbenutzt ließen, um das, was als nothwendig er-
kannt iſt, zur ſichern Durchführung zu bringen.
Berlin, 14. Dez. Die bulgariſche Abordnung
wird bereits morgen Mittag oder Nachmittag hierſelbſt ein-
treffen. Die drei Herren werden hierſelbſt vom Staats-
ſecretär Grafen Herbert v. Bismarck durchaus als Privat-
leute, nicht als Abordnung empfangen werden. Es ſoll
ſog ar, wie man in hieſigen politiſchen Kreiſen annimmt,
nicht einmal ein gemeinſchaftlicher Empfang ſtattfinden, viel-
mehr jeder Einzelne ſeinen Beſuch machen.
Stuttgart, 14. Dezbr. Die Kammer nahm die
evangeliſche Kirchenvorlage mit 61 gegen 18
Stimmen an.
Ausland.
Paris, 14. Dez. Das amtliche Blatt meldet: Flou-
rens, der Präſident der Abtheilung für Geſetzgebung,
Juſtiz und Auswärtige Angelegenheiten im Staatsrathe
und Präſident des berathenden Ausſchuſſes für die Protec-
torate im Miniſterium des Auswärtigen, iſt zum Miniſter
der Auswärtigen Angelegenheiten ernannt wor-
den. Dieſe Ernennung eines Mannes, der weder Parla-
mentsmitglied noch Diplomat vom Fach iſt, hat allgemein
überraſcht und wird ungünſtig aufgenommen. Die Er-
nennung iſt das Ergebniß einer Abſtimmung im geſtrigen
Miniſterrathe, wo ſich ſechs gegen vier Miniſter für die
Ernennung Flourens erklärten. Wie jedoch verſichert wird,
hat Flourens, als er Director im Cultusminiſterium war,
ſich als ein Mann von großen Gaben gezeigt.
Paris, 14. Dez. Deputirtenkammer. Nach An-
nahme des vom Senat gutgeheißenen Geſetzentwurfs über
die Ehrenlegion für die Territorialarmee in der heutigen
Sitzung erfolgte durch den Finanzminiſter Dauphin die Vor-
lage des Geſetzentwurfes, welcher für das Etatsjahr
1887 die vorläufigen Credite für Januar und Februar
eröffnet und Vollmacht ertheilt, die Steuern für dieſe zwei
Monate zu erheben. Die Berathung im Ausſchuſſe ergab
die Annahme der Vorlage mit 17 gegen 12 Stimmen.
Wilſon verlas den Bericht des Budgetausſchuſſes über
die Creditforderung von vorläufig 2 Zwölfteln. Hubbard
(äußerſte Linke) ſpricht gegen die Creditvorlage, weil die
Kammer noch Zeit genug habe, die Budgetberathung fort-
zuſetzen. Clemenceau iſt der Anſicht, daß die Frage
eine politiſche Bedeutung habe. Alle Gruppen der republi-
kaniſchen Partei müßten eine freimüthige Darlegung wün-
ſchen. Die Kriſis dauere fort, eine Mehrheit ſei nicht
vorhanden; es ſei überflüſſig zu unterſuchen, ob die Regie-
rung oder die Gruppen daran Schuld ſeien. Uebrigens ſei
es leicht zu beweiſen, daß die Regierung an dem Tag ge-
ſtürzt würde, wo das geſammte Budget mit der Bemerkung:
„Keine Anleihe! keine Steuern!“ verworfen werde. Was
geſchehen iſt, ſei bekannt. Es ſei eine doppelte Ent-
täuſchung für die Kammer eingetreten, die ſich dann vor-
nahm, ſelbſt Reformen zu ſchaffen. Die Erklärung des
Miniſteriums habe niemanden befriedigt; es verſchließe ſich
den Reformen gänzlich. Es verſpreche zwar einiges, aber
man dürfe damit nicht warten, bis die Kriſisswieder acut
werde. Goblet bemerkt, er wünſche, daß der Reduer die
Erklärung kritiſire. Clemenceau: Dieſes Actenſtück
bietet nicht Stoff genug zur Kritik. (Unruhe.) Goblet
bemerkt in ſeiner Entgegnung, die Kirchenfrage ſei brennend,
aber die Löſung nicht nahe. Er (Redner) ſei ſtets für die
Trennung des Staates von der Kirche geweſen, aber eine
Mehrheit hierfür müſſe allmählig vorbereitet werden. Er
habe niemals an eine republikaniſche Rechte geglaubt. Die
„Sing⸗Abend des Bach⸗ und akademiſchen Geſang-
Vereins ꝛc.
N gtidelberg, 14. Decbr. Mit vollen Segeln, von kundiger,
energiſcher Hand geſtenert, iſt der Bachverein geſtern in den
Hafen eines glänzenden Erfolges eingelaufen. — Er darf mit
voller Befriedigung auf dieſen Abend zurückblicken. Wie im letz-
ten Jahre hat auch in dieſem das Publikum dem neuen Inſtitut
eine in die Augen ſpringende Sympathie entgegengebracht, die ſich
in vollzähligem ja überzähligem Erſcheinen, und einem ſich von
Nummer zu Nummer ſteigernden Beifall kundgab. Herr Muſik-
director Wolfrum hat ſich die beiden geſtern zuſammenwirken-
den Vereine in einer Weiſe geſchult und für ſeine Intentionen
herangebildet, datz er mit ihnen ſiegesgewiß an die ſchwierigſten
Aufgaben herantreten kann. Es haben ſich unter ſeiner energi-
ſchen Leitung die beſten Eigenſchaften entwickelt, die man einem
Chorverein nachrühmen kann. Der Bachverein beſitzt numeriſch eine
den Räumlichkeiten angemeſſene, gehörige Stärke, eine große An-
zahl gut klingender und zum Theil künſtleriſch geſchulter Stimmen,
die einzelnen Stimmgattungen ſtehen im richtigen Verhältniß,
nur die Klangfülle des Tenors läßt, wie ſo ziemlich überall, noch
zu wünſchen übrig. Es wurde vortrefflich geſungen, rein, mit
präziſen Einſätzen, mit maßvollem Forte und muſtergiltigem
iano. Kein Vordrängen einzelner Stimmen macht ſich geltend,
eder fügt ſich, mit weiſer Einſchräukung der Kräfte in den
Rahmen des Ganzen. Die einheitliche Phraſirung und die feine
Abſchattirung legen einerſeits von dem gewiſſenhaften Ein-
ſtudiren, anderſeits davon Zeugniß ab, daß bei den Sängern
die Fähigkeit nicht nur, das Material zu bewältigen, ſondern
uuch in den Geiſt der Compoſition einzudringen, vorhanden iſt.
denen die Auf-
ſührungen von Chorwerken, namentlich a capella⸗Chören ausge-
ſetzt ſind, zeigte ſich an dem Concert⸗Abend, trotz der zahlreichen
Programmnummern — von einem allgemeinen Sinken des Tones
in dem zweiten Chor, einem vorübergehenden „Oerabdrücken“ des
Sopranes und einem verfrühten Baßeinſatz abgeſehen — nichts.
Wir hatten nicht ohne Bangen einer Aufführung von nicht weniger
als 21 Geſangsuummern entgegengeſehen. Wie ſich bei einem
rein inſtrumentalen Concert nach einiger Zeit eine wahre Sehn-
ſucht nach einer vokalen Leiſtung einzuſtellen pflegt, ſo verlangt
ebenſo das Ohr, wenn ein gewiſſes Maß von Vokalem geboten
iſt, nach einer andern, inſtrumentalen Klangfarbe. Daß man nun
geſtern trotz der zahlreichen Nummern doch nicht ermüdet wurde,
beweiſt eine glückliche Zuſammenſtellung und Durchführung des
„Programms. Einmal war durch die Abwechslung von Geſammt-
und Elitechören der Monotonie vorgebeugt, und dann bot der ge-
ſchickt angelegte Weg vom Klaſſiſchen zum Modernen lauter con-
traſtirende und zu ſtets willkommener neuer Raſt einladende
Stationen. Die erſte Strecke führte durch ſtreng klaſſiſches, reli-
giöſes Gebiet. Bei dem innigen Zuſammenhang, den die vorlie-
genden religiöſen Muſikſtücke mit der Kirche hatten, haben dieſel-
den im Concertſaal keinen leichten Stand. Die nöthige Stimmung,
die ſich im Halbdunkel einer Kirche ſo ganz von ſelbſt ergiebt,
läßt ſich im Concertſaal nur ſchwer finden, und bei polyphonen
Kunſtwerken ſtellt ſich für den, der nicht genügend gerüſtet an ſie
herantritt, der entziffernde Gedanke dem muſikaliſchen Empfinden
oft geradezu feindlich gegenüber. Nach der ihnen zugewandten
Andacht berührte der Sonnenſchein des herrlichen Schubert'ſchen
23. Pſalmes erquickend und erwärmend. Einen ſehr friedlichen
Eindruck hinterließen die — textlich etwas eigenartigen — Marien-
lieder von Brahms. Es iſt bewunderungswürdig, wie der ſonſt
nicht eben ſehr populär denkende und ſchreibende Brahms die ſchlichte
Herzlichkeit des Volksliedes und den alterthümlichen Ton trifft. Der
eigenartige Rhythmus in beiden Liedern iſt ungemein anziehend, die
Tonmalerei ſehr glücklich. Es folgte eine, namentlich in der Stimm-
führung ſehr intereſſante Compoſition von Wolfrum: „Pfingſtgeſang“.
Die zweite Abtheilung brachte zunächſt zwei volksthümliche Lieder
aus dem 17. Jahrhundert, von denen beſonders das zweite in
ſeiner tändelnden Heiterkeit anßerordentlich friſch iſt, dann ein
Ständchen von Schubert für Aitſolo mit Frauenchor, eine Com-
poſttion, die einzig iſt in ihrer duftigen, neckiſchen Anmuth, und
endlich eine in der Stimmung prächtig gehaitene Ballade von
Rheinberger „König Ehrich“. Den Schluß bildeten dann einfache
Volkslieder, die aber durch die virtuoſe Wiedergabe ſo wirkungs-
voll geſtaltet wurden, daß ſie ſtürmiſchen Beifall hervorriefen.
Als Geſangsſoliſtin war keine geringere Celebrität als Frau
Amalie Joachim, die Meiſterin des kunſtvollen Vortrags, ge-
wonnen worden. In Vornehmheit der Auffaſſung, Adel des Aus-
drucks und formſchöner Abrundung des Vortrags nimmt unter
allen Concertſängerinnen Frau Joachim wohl die erſte Stelle ein.
Ihr ruhiges gelaſſenes Temperament hat ſie auf das Oratorium
und das getragene Lied hingewieſen. Auf dieſem Gebiet hat ſie
denn auch geſtern ihre hohe Meiſterſchaft in glänzendem Lichte
gezeigt. Wie hat ſie es verſtanden, in den Bach'ſchen Arien innig
zu ſein ohne ſentimental zu werden, wie warm und duftig hat ſie
das Ständchen hingehaucht, wie hat ſie in den Liedern, nament-
lich der herrlichen „Feldeinſamkeit“ von Brahms, bei aller Ein-
fachheit die Stimmung zu treffen gewußt! Ob ihre Auffaſſung
des „Waldesgeſprächs“ gerade durchweg die richtige, mag hin-
geſtellt ſein, jedenfalls gehört ſie zu den wenigen Sängerinnen,‚
die hier die richtige Grenzlinie zwiſchen Lied und dramatiſcher
Szene zu finden wiſſen. Auch würde es der Erhabenheit der
Händel'ſchen Arie „Er wird verſchmähet“ keinen Abbruch thun,
wenn ſie den Mittelſatz etwas raſcher nähme. Wenn dieſer ganz
im gleichen Zeitmaß wie der erſte geſungen wird und dann noch
die Wiederholung des erſten Theils in immer gleichem Tempo
und in gleicher Färbung kommt, ſo muß die Arie, ſelbſt bei ſo
muſtergiltigem Vortrag, ermüden. Bei den eminenten Vorzügen,
die Frau Joachim aufweiſt, braucht man es nicht zu verichweigen,
daß die Zeit nicht ſpurlos an ihrer prächtigen Stimme vorüber-
gegangen iſt. Aber wenn auch der Klang derſelben nicht
mehr ſo metalliſch und paſtös iſt, wie ehedem, ihre Meiſterſchaft
deckt dieſe Schäden vollkommen. Daß ſie ſtürmiſchen Beifall
erntete, braucht wohl nicht verſichert zu werden. Hoffen wir, daß
der Verein noch manchen ſolch glücklichen Abende, in Zukunft zu
verzeichnen hat und daß er, eingefügt in das Mufikleben unſerer
Stadt, auch fernerhin ſich als eine glänzende Seite deſſelben zeige.
T. *
Wegen Raummangels muß die Fortſetzung der Erzaͤhlung im Feuilleton auf morgen verſchoben werden.
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Nr. 294.
Mittwoch, den 15. Dezember
1886.
* Beſſere Ausſichten?
Die allgemeine Weltlage läßt ſich nach einigen
neueſten Telegrammen aus London und Wien gegenwärtig
wieder etwas friedlicher an wie in den letzten Wochen, wo
die Situation auf's äußerſte geſpannr war. Dies iſt dem
perſönlichen Eingreifen Kaiſer Wilhelms zu verdanken.
Deutſchlands greiſer Herrſcher ſoll einen freundſchaftlichen,
aber auch ſehr eindringlich gehaltenen Brief an den Cz a ren
gerichtet haben, welcher auf denſelben einen recht tiefen
Eindruck hervorrief und deſſen bis zur Siedehitze geſteigerte
Animoſität gegen die Friedensmächte merklich abgekühlt
haben ſoll. Der Czar ſoll in Folge dieſes Briefes die
Geneigtheit bekunden, in der bulgariſchen Frage etwas
andere Saiten aufzuziehen. Es heißt, Rußland ſei jetzt
bereit, die Candidatur des Mingreliers aufzu-
geben und ſowohl wegen der Perſon des künftigen Bul-
garenfürſten als wegen der weitern Klärung der Orient-
wirren auf eine Vereinbarung mit den andern Mächten ein-
zugehen. Der Dadian ſcheint alſo völlig abgethan zu ſein.
Die Gallerie der Bulgaren⸗Candidaten iſt dagegen um eine Per-
ſönlichkeit bereichert, und zwar um den Prinzen Fer dinand
von Coburg, welcher ernſtlich in Betracht kommen ſoll.
Wie ſchwierig es iſt, auf friedlichem Wege mit der ruſſi-
ſchen Politik auszukommen, erhellt aus einer Schilderung,
welche die „Basl. Nachr.“ nach angeblich glaubwürdiger
Information von der Gemüthsſtimmung des Czaren geben.
Es heißt dort: „Der Czar ſcheint nach den allerneueſten
Kundgebungen wieder einzulenken. Doch es ſcheint eben
nur ſo. Eines iſt gewiß: des Czaren Wuth gegen Bis-
marck war in letzter Zeit wieder grenzenlos; man durfte den
fürchterlichen Namen nicht vor ihm ausſprechen. Der Czar
glaubt, daß Bismarck ein doppeltes Spiel mit ihm getrieben. Man
hat ihm den kleinen Finger gegeben und die Hand will nicht fol-
gen. Das macht ihn raſend. Es hat in den ſoeben verfloſſenen
Wochen Tage gegeben, in denen die geſammte Bewohner-
ſchaft von Schloß Gatſchina bis zum letzten Küchenjungen
hinab zitterte. Wie weit er in ſeinem Zorn ſchon gegangen
war, das müſſen wir unſern Leſern zur Aufklärung der
augenblicklichen Lage mittheilen. Der Czar war ſchon ſo
weit gegangen, Herrn von Freycinet die ruſſiſche
Allianz anzubieten; aber Herr v. Freycinet hat
nicht ohne Weiteres in die ihm dargebotene
Hand eingeſchlagen. Das iſt nicht der einzige, aber
doch der weſentliche Grund, weshalb Herr v. Freycinet nicht
mehr Miniſter iſt. Was wir hier ſagen, wird große Ueber-
raſchung hervorrufen. Wir ſtützen uns auf unſere eigenen
Juformationen, ſie ſind ganz zuverläſſig. Mehrere Gründe
werden Herrn v. Freycinet veranlaßt haben, ſo und nicht
anders zu handeln. Einer genügte: er iſt nicht der Mann
plötzlicher, kühner Entſchlüſſe, ſondern ſeiner ganzen Natur
nach der Mann der klugen Berechnung und der — Umwege.
Er hat den pſychologiſchen Moment verpaßt und wer weiß,
ob dieſer Moment wiederkehrt. Das wird ihm von ſeinen
zahlreichen Gegnern und von Boulanger u. den Freun-
den Boulangers nicht vergeben. Boulanger aber regiert in
dieſem Augenblick in Frankreich ꝛc.“
Daß die Anregung zu der ruſſiſch⸗franzöſiſchen
Alliance, welche in den letzten Wochen in der Luft lag,
nicht von Frankreich, ſondern von Rußland ausging,
hat auch die Köln. Ztig. beſtätigt.
Deutſches Reich.
Berlin, 14. Dez. Wie die Köln. Ztg. aus ſicherer
Quelle erfährt, erwartet der Kaiſer mit Spannung und
nachgrade mit einer gewiſſen Ungeduld, welches Schickſal
die Militärvorlage im Reichstage haben wird. Wenn
nicht bald nach Neujahr mit den erſten Anordnungen vor-
angegangen werden kann, ſo wird die Militärverwaltung
gar nicht im Stande ſein, die Vermehrung der Truppen-
beſtände zum 1. April wirklich zu machen. Bei dieſem
Umſtande empfinden es unſere oberſten Militärbehörden
und empfindet es namentlich der Kaiſer, der den Be-
rathungen der Commiſſion in allen Einzelheiten folgt, recht
ſchmerzlich, daß man erſichtlich von gewiſſer Seite beſtrebt
iſt, die Entſcheidung möglichſt lange hinauszuſchieben, um
die Reichsregierung, damit ſie doch etwas zum 1. April
erreiche, geneigt zu machen, auch mit weniger ſich zu be-
gnügen, als in der jetzigen Vorlage verlangt wird. Sollte
es beliebt werden, in der Einzelberathung jede einzelne
Ziffer anzugreifen und herabzuſetzen, um die Arbeiten mög-
lichſt hinzuziehen, ſo werden die Bevollmächtigten des Bun-
desraths wahrſcheinlich angewieſen werden, eine ſehr kurze
Antwort zu geben. In der That ſcheint es nicht anzugehen,
daß an Einzelheiten herumgemäkelt werde. Entweder hält man
die Vermehrung unſerer Heeresſtärke für nöthig oder aber für
entbehrlich. Je nachdem wird man die Vorlage annehmen oder
ablehnen. Die Einzelheiten können nur von der Militär-
verwaltung richtig getroffen werden, und für dieſe Einzel-
heiten muß und darf man der letztern die Verantwortung
überlaſſen. Es könnte ſonach die Commiſſion ihre Arbeit
ſehr wohl in wenig Tagen erledigt haben. In der Be-
gründung zu dem Entwurf iſt übrigens ausdrücklich die
Nothwendigkeit hervorgehoben, die in Ausſicht genommene
Verſtärkung unſerer Militärmacht „ſo bald als möglich ein-
treten zu laſſen.“ In den höchſten politiſchen wie militä-
riſchen Kreiſen bedauert man es, daß dieſe Worte ſo wenig
gewürdigt worden ſind. Man will es nicht begreifen, daß
der Reichstag ſich nicht ſolle verpflichtet fühlen, dem Kaiſer
und der Militärverwaltung noch vor Weihnachten Gewiß-
heit über ſeine Geneigtheit gegenüber dieſer Vorlage zu
geben, welche Gewißheit lange nach den Weihnachtsferien
einfach zu ſpät käme. Als im Jahre 1883 die Berathung
der Unfallverſicherung ins Stocken kam, richtete der Kaiſer,
wie man ſich erinnert, eine Botſchaft an den Reichstag, in
der „dem Reichstag in vertrauensvoller Anrufung ſeines
bewährten Sinnes für Kaiſer und Reich die baldige Er-
ledigung der Vorlage dringend ans Herz gelegt wurde.“
Wenn ſich jetzt die Berathungen über ein wahrlich doch viel
dringenderes Geſetz noch weiter in die Länge ziehen, ſo
würde man ſchwerlich überraſcht ſein, wenn in gleicher oder
ähnlicher Weiſe das Pflichtgefühl der Volksvertretung an-
gerufen werden ſollte. Wenn dieſer Aufruf wirkungslos
bliebe, ſo wüßte man zugleich, daß von dieſem Reichstage
auch für die Vorlage ſelbſt nichts zu hoffen ſei, und daß
nichts übrig bliebe, als die Auflöſung des Reichstags. Bei
der jedem Einſichtigen hinlänglich klargelegten Wichtigkeit
und Dringlichkeit des Geſetzentwurfs würde die deutſche
Nation es gewiß verſtehen, wenn die verantwortlichen Ge-
walten und an erſter Stelle des Kaiſers Majeſtät kein
Mittel unbenutzt ließen, um das, was als nothwendig er-
kannt iſt, zur ſichern Durchführung zu bringen.
Berlin, 14. Dez. Die bulgariſche Abordnung
wird bereits morgen Mittag oder Nachmittag hierſelbſt ein-
treffen. Die drei Herren werden hierſelbſt vom Staats-
ſecretär Grafen Herbert v. Bismarck durchaus als Privat-
leute, nicht als Abordnung empfangen werden. Es ſoll
ſog ar, wie man in hieſigen politiſchen Kreiſen annimmt,
nicht einmal ein gemeinſchaftlicher Empfang ſtattfinden, viel-
mehr jeder Einzelne ſeinen Beſuch machen.
Stuttgart, 14. Dezbr. Die Kammer nahm die
evangeliſche Kirchenvorlage mit 61 gegen 18
Stimmen an.
Ausland.
Paris, 14. Dez. Das amtliche Blatt meldet: Flou-
rens, der Präſident der Abtheilung für Geſetzgebung,
Juſtiz und Auswärtige Angelegenheiten im Staatsrathe
und Präſident des berathenden Ausſchuſſes für die Protec-
torate im Miniſterium des Auswärtigen, iſt zum Miniſter
der Auswärtigen Angelegenheiten ernannt wor-
den. Dieſe Ernennung eines Mannes, der weder Parla-
mentsmitglied noch Diplomat vom Fach iſt, hat allgemein
überraſcht und wird ungünſtig aufgenommen. Die Er-
nennung iſt das Ergebniß einer Abſtimmung im geſtrigen
Miniſterrathe, wo ſich ſechs gegen vier Miniſter für die
Ernennung Flourens erklärten. Wie jedoch verſichert wird,
hat Flourens, als er Director im Cultusminiſterium war,
ſich als ein Mann von großen Gaben gezeigt.
Paris, 14. Dez. Deputirtenkammer. Nach An-
nahme des vom Senat gutgeheißenen Geſetzentwurfs über
die Ehrenlegion für die Territorialarmee in der heutigen
Sitzung erfolgte durch den Finanzminiſter Dauphin die Vor-
lage des Geſetzentwurfes, welcher für das Etatsjahr
1887 die vorläufigen Credite für Januar und Februar
eröffnet und Vollmacht ertheilt, die Steuern für dieſe zwei
Monate zu erheben. Die Berathung im Ausſchuſſe ergab
die Annahme der Vorlage mit 17 gegen 12 Stimmen.
Wilſon verlas den Bericht des Budgetausſchuſſes über
die Creditforderung von vorläufig 2 Zwölfteln. Hubbard
(äußerſte Linke) ſpricht gegen die Creditvorlage, weil die
Kammer noch Zeit genug habe, die Budgetberathung fort-
zuſetzen. Clemenceau iſt der Anſicht, daß die Frage
eine politiſche Bedeutung habe. Alle Gruppen der republi-
kaniſchen Partei müßten eine freimüthige Darlegung wün-
ſchen. Die Kriſis dauere fort, eine Mehrheit ſei nicht
vorhanden; es ſei überflüſſig zu unterſuchen, ob die Regie-
rung oder die Gruppen daran Schuld ſeien. Uebrigens ſei
es leicht zu beweiſen, daß die Regierung an dem Tag ge-
ſtürzt würde, wo das geſammte Budget mit der Bemerkung:
„Keine Anleihe! keine Steuern!“ verworfen werde. Was
geſchehen iſt, ſei bekannt. Es ſei eine doppelte Ent-
täuſchung für die Kammer eingetreten, die ſich dann vor-
nahm, ſelbſt Reformen zu ſchaffen. Die Erklärung des
Miniſteriums habe niemanden befriedigt; es verſchließe ſich
den Reformen gänzlich. Es verſpreche zwar einiges, aber
man dürfe damit nicht warten, bis die Kriſisswieder acut
werde. Goblet bemerkt, er wünſche, daß der Reduer die
Erklärung kritiſire. Clemenceau: Dieſes Actenſtück
bietet nicht Stoff genug zur Kritik. (Unruhe.) Goblet
bemerkt in ſeiner Entgegnung, die Kirchenfrage ſei brennend,
aber die Löſung nicht nahe. Er (Redner) ſei ſtets für die
Trennung des Staates von der Kirche geweſen, aber eine
Mehrheit hierfür müſſe allmählig vorbereitet werden. Er
habe niemals an eine republikaniſche Rechte geglaubt. Die
„Sing⸗Abend des Bach⸗ und akademiſchen Geſang-
Vereins ꝛc.
N gtidelberg, 14. Decbr. Mit vollen Segeln, von kundiger,
energiſcher Hand geſtenert, iſt der Bachverein geſtern in den
Hafen eines glänzenden Erfolges eingelaufen. — Er darf mit
voller Befriedigung auf dieſen Abend zurückblicken. Wie im letz-
ten Jahre hat auch in dieſem das Publikum dem neuen Inſtitut
eine in die Augen ſpringende Sympathie entgegengebracht, die ſich
in vollzähligem ja überzähligem Erſcheinen, und einem ſich von
Nummer zu Nummer ſteigernden Beifall kundgab. Herr Muſik-
director Wolfrum hat ſich die beiden geſtern zuſammenwirken-
den Vereine in einer Weiſe geſchult und für ſeine Intentionen
herangebildet, datz er mit ihnen ſiegesgewiß an die ſchwierigſten
Aufgaben herantreten kann. Es haben ſich unter ſeiner energi-
ſchen Leitung die beſten Eigenſchaften entwickelt, die man einem
Chorverein nachrühmen kann. Der Bachverein beſitzt numeriſch eine
den Räumlichkeiten angemeſſene, gehörige Stärke, eine große An-
zahl gut klingender und zum Theil künſtleriſch geſchulter Stimmen,
die einzelnen Stimmgattungen ſtehen im richtigen Verhältniß,
nur die Klangfülle des Tenors läßt, wie ſo ziemlich überall, noch
zu wünſchen übrig. Es wurde vortrefflich geſungen, rein, mit
präziſen Einſätzen, mit maßvollem Forte und muſtergiltigem
iano. Kein Vordrängen einzelner Stimmen macht ſich geltend,
eder fügt ſich, mit weiſer Einſchräukung der Kräfte in den
Rahmen des Ganzen. Die einheitliche Phraſirung und die feine
Abſchattirung legen einerſeits von dem gewiſſenhaften Ein-
ſtudiren, anderſeits davon Zeugniß ab, daß bei den Sängern
die Fähigkeit nicht nur, das Material zu bewältigen, ſondern
uuch in den Geiſt der Compoſition einzudringen, vorhanden iſt.
denen die Auf-
ſührungen von Chorwerken, namentlich a capella⸗Chören ausge-
ſetzt ſind, zeigte ſich an dem Concert⸗Abend, trotz der zahlreichen
Programmnummern — von einem allgemeinen Sinken des Tones
in dem zweiten Chor, einem vorübergehenden „Oerabdrücken“ des
Sopranes und einem verfrühten Baßeinſatz abgeſehen — nichts.
Wir hatten nicht ohne Bangen einer Aufführung von nicht weniger
als 21 Geſangsuummern entgegengeſehen. Wie ſich bei einem
rein inſtrumentalen Concert nach einiger Zeit eine wahre Sehn-
ſucht nach einer vokalen Leiſtung einzuſtellen pflegt, ſo verlangt
ebenſo das Ohr, wenn ein gewiſſes Maß von Vokalem geboten
iſt, nach einer andern, inſtrumentalen Klangfarbe. Daß man nun
geſtern trotz der zahlreichen Nummern doch nicht ermüdet wurde,
beweiſt eine glückliche Zuſammenſtellung und Durchführung des
„Programms. Einmal war durch die Abwechslung von Geſammt-
und Elitechören der Monotonie vorgebeugt, und dann bot der ge-
ſchickt angelegte Weg vom Klaſſiſchen zum Modernen lauter con-
traſtirende und zu ſtets willkommener neuer Raſt einladende
Stationen. Die erſte Strecke führte durch ſtreng klaſſiſches, reli-
giöſes Gebiet. Bei dem innigen Zuſammenhang, den die vorlie-
genden religiöſen Muſikſtücke mit der Kirche hatten, haben dieſel-
den im Concertſaal keinen leichten Stand. Die nöthige Stimmung,
die ſich im Halbdunkel einer Kirche ſo ganz von ſelbſt ergiebt,
läßt ſich im Concertſaal nur ſchwer finden, und bei polyphonen
Kunſtwerken ſtellt ſich für den, der nicht genügend gerüſtet an ſie
herantritt, der entziffernde Gedanke dem muſikaliſchen Empfinden
oft geradezu feindlich gegenüber. Nach der ihnen zugewandten
Andacht berührte der Sonnenſchein des herrlichen Schubert'ſchen
23. Pſalmes erquickend und erwärmend. Einen ſehr friedlichen
Eindruck hinterließen die — textlich etwas eigenartigen — Marien-
lieder von Brahms. Es iſt bewunderungswürdig, wie der ſonſt
nicht eben ſehr populär denkende und ſchreibende Brahms die ſchlichte
Herzlichkeit des Volksliedes und den alterthümlichen Ton trifft. Der
eigenartige Rhythmus in beiden Liedern iſt ungemein anziehend, die
Tonmalerei ſehr glücklich. Es folgte eine, namentlich in der Stimm-
führung ſehr intereſſante Compoſition von Wolfrum: „Pfingſtgeſang“.
Die zweite Abtheilung brachte zunächſt zwei volksthümliche Lieder
aus dem 17. Jahrhundert, von denen beſonders das zweite in
ſeiner tändelnden Heiterkeit anßerordentlich friſch iſt, dann ein
Ständchen von Schubert für Aitſolo mit Frauenchor, eine Com-
poſttion, die einzig iſt in ihrer duftigen, neckiſchen Anmuth, und
endlich eine in der Stimmung prächtig gehaitene Ballade von
Rheinberger „König Ehrich“. Den Schluß bildeten dann einfache
Volkslieder, die aber durch die virtuoſe Wiedergabe ſo wirkungs-
voll geſtaltet wurden, daß ſie ſtürmiſchen Beifall hervorriefen.
Als Geſangsſoliſtin war keine geringere Celebrität als Frau
Amalie Joachim, die Meiſterin des kunſtvollen Vortrags, ge-
wonnen worden. In Vornehmheit der Auffaſſung, Adel des Aus-
drucks und formſchöner Abrundung des Vortrags nimmt unter
allen Concertſängerinnen Frau Joachim wohl die erſte Stelle ein.
Ihr ruhiges gelaſſenes Temperament hat ſie auf das Oratorium
und das getragene Lied hingewieſen. Auf dieſem Gebiet hat ſie
denn auch geſtern ihre hohe Meiſterſchaft in glänzendem Lichte
gezeigt. Wie hat ſie es verſtanden, in den Bach'ſchen Arien innig
zu ſein ohne ſentimental zu werden, wie warm und duftig hat ſie
das Ständchen hingehaucht, wie hat ſie in den Liedern, nament-
lich der herrlichen „Feldeinſamkeit“ von Brahms, bei aller Ein-
fachheit die Stimmung zu treffen gewußt! Ob ihre Auffaſſung
des „Waldesgeſprächs“ gerade durchweg die richtige, mag hin-
geſtellt ſein, jedenfalls gehört ſie zu den wenigen Sängerinnen,‚
die hier die richtige Grenzlinie zwiſchen Lied und dramatiſcher
Szene zu finden wiſſen. Auch würde es der Erhabenheit der
Händel'ſchen Arie „Er wird verſchmähet“ keinen Abbruch thun,
wenn ſie den Mittelſatz etwas raſcher nähme. Wenn dieſer ganz
im gleichen Zeitmaß wie der erſte geſungen wird und dann noch
die Wiederholung des erſten Theils in immer gleichem Tempo
und in gleicher Färbung kommt, ſo muß die Arie, ſelbſt bei ſo
muſtergiltigem Vortrag, ermüden. Bei den eminenten Vorzügen,
die Frau Joachim aufweiſt, braucht man es nicht zu verichweigen,
daß die Zeit nicht ſpurlos an ihrer prächtigen Stimme vorüber-
gegangen iſt. Aber wenn auch der Klang derſelben nicht
mehr ſo metalliſch und paſtös iſt, wie ehedem, ihre Meiſterſchaft
deckt dieſe Schäden vollkommen. Daß ſie ſtürmiſchen Beifall
erntete, braucht wohl nicht verſichert zu werden. Hoffen wir, daß
der Verein noch manchen ſolch glücklichen Abende, in Zukunft zu
verzeichnen hat und daß er, eingefügt in das Mufikleben unſerer
Stadt, auch fernerhin ſich als eine glänzende Seite deſſelben zeige.
T. *
Wegen Raummangels muß die Fortſetzung der Erzaͤhlung im Feuilleton auf morgen verſchoben werden.